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Psychiatrie und Strafjustiz

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ne. Hier wurde seitens der führenden Psychiater die Bereitschaft, mit den Justizbehörden zusammenzuar-<br />

beiten, nie ernstlich in Frage gestellt. Dies war nicht zuletzt eine Folge davon, dass die Berner Strafgesetz-<br />

gebung verschiedene Optionen für eine fallweise Medikalisierung kriminellen Verhaltens offen liess. So<br />

erlaubte das Institut der verminderten Zurechnungsfähigkeit, ausgesprochenen «Grenzfällen», die sich<br />

nicht in das Schema Krankheit/Ges<strong>und</strong>heit einordnen liessen, adäquat Rechnung zu tragen. Dadurch<br />

eröffneten sich für die im Strafverfahren involvierten Akteure beträchtliche Verhandlungs- <strong>und</strong> Ermes-<br />

sensspielräume. Die Möglichkeit, Strafverfahren im Stadium der Voruntersuchung einzustellen, erlaubte<br />

der Justizverwaltung zudem, geistesgestörte DelinquentInnen unter Umgehung gerichtlicher Instanzen aus<br />

dem Bezugssystem der <strong>Strafjustiz</strong> auszugliedern <strong>und</strong> einem institutionellen Zugriff durch die <strong>Psychiatrie</strong><br />

zu unterwerfen. Im Gegenzug boten die im Berner Strafgesetzbuch vorgesehenen «Sicherungsmassregeln»<br />

ein wirkungsvolles funktionales Äquivalent zur traditionellen strafrechtlicher Repression.<br />

5.2 Institutionelle <strong>und</strong> personelle Voraussetzungen: Infrastruktur, Anstaltstechnologie <strong>und</strong><br />

personelle Netzwerke<br />

In den selbstbewussten Äusserungen von Speyrs oder Glasers zur Berner Strafgesetzgebung widerspiegelt<br />

sich die erfolgreiche Institutionalisierung <strong>und</strong> Vernetzung der Berner <strong>Psychiatrie</strong> in der zweiten Hälfte des<br />

19. Jahrh<strong>und</strong>erts. Die Entstehung einer modernen psychiatrischen Infrastruktur war tatsächlich eine we-<br />

sentliche Voraussetzung dafür, dass die Berner <strong>Psychiatrie</strong>ärzte eine eigentliche Sachverständigenrolle<br />

auszudifferenzieren vermochten. Die Irrenanstalten boten Raum, um StraftäterInnen über längere Zeit-<br />

räume hinweg fachärztlich zu beobachten. Zudem erlaubten sie, «verbrecherische Geisteskranke» in irrenärztlich<br />

geleiteten Institutionen zu verwahren. Diese beiden Umstände trugen wesentlich dazu bei, dass<br />

die Ärzte der kantonalen Irrenanstalten die strafrechtlichen Begutachtungsaufgaben um die Jahrh<strong>und</strong>ert-<br />

wende praktisch monopolisiert hatten. Als der St. Galler Regierungsrat <strong>und</strong> Präsident der Schweizerischen<br />

Gemeinnützigen Gesellschaft Johann Matthias Hungerbühler (1805–1884) um die Jahrh<strong>und</strong>ertmitte einen Be-<br />

richt über das Irrenwesen in der Schweiz veröffentlichte, konnte von einer derart ausdifferenzierten psy-<br />

chiatrischen Infrastruktur allerdings noch keine Rede sein. Vor allem in kleineren Kantonen, so Hunger-<br />

bühler, seien kaum staatliche Einrichtungen für die «unglückliche Bürgerklasse der Geisteskranken» vor-<br />

handen. Die meisten Kantone würden Geisteskranke zusammen mit Sträflingen einsperren. Nur in einigen<br />

wenigen Kantonen gäbe es Anstalten, die «Heilbare» <strong>und</strong> «Unheilbare» getrennt unterbringen würden. 653<br />

In Bezug auf den Kanton Bern stellte Hungerbühler fest: «Der Zustand der Berner Irrenanstalt ist unter<br />

den gegebenen Verhältnissen ein leidlicher. Doch entspricht die Anstalt den Forderungen der Zeit <strong>und</strong><br />

Berns grossen Mitteln nicht. [...] Die Anstalt leidet fast an allen Gebrechen, die an den alten Institutionen<br />

kleben, welche Irrenhäuser mit Krankenhäusern verbinden. Der Kanton Bern bedarf einer, seinen finan-<br />

ziellen Kräften angemessenen <strong>und</strong> seinen übrigen humanen Bestrebungen würdigen, mit den Fortschritten<br />

der <strong>Psychiatrie</strong> im Einklang stehenden neuen Irren-, Heil- <strong>und</strong> Pflegeanstalt.» 654<br />

Der Aufbau der psychiatrischen Infrastruktur im Kanton Bern<br />

Hungerbühler hatte mit seiner Einschätzung das 1749 auf dem Berner Breitfeld eröffnete «Tollhaus» im<br />

Auge. Im ersten Drittel des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts wurde das «Tollhaus» verschiedentlich aus- <strong>und</strong> umgebaut.<br />

Im Zeichen eines neu erwachten therapeutischen Optimismus sollte nun nicht mehr allein die Verwah-<br />

rung der Kranken, sondern auch deren Heilung <strong>und</strong> Wiedereingliederung in die Gesellschaft ins Auge<br />

gefasst werden. 655 Ein Gutachten zuhanden der zuständigen Spitalkommission machte allerdings 1834 auf<br />

653 Hungerbühler, 1846.<br />

654 Hungerbühler, 1946, 34.<br />

655 Caviezel-Rüegg, 1998, 5-17; Wyrsch, 1955, 7-21.<br />

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