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Psychiatrie und Strafjustiz

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Fazit: Das Paradox des bürgerlichen Strafrechts <strong>und</strong> die Ausweitung des medizinischen Kompe-<br />

tenzanspruchs<br />

Das bürgerliche Strafrecht, wie es die aufgeklärte Reformbewegung <strong>und</strong> die grossen Strafrechtskodifikati-<br />

onen des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts konzipierten, beruhte im Wesentlichen auf der gesetzlich normierten Bestra-<br />

fung schuldhaft begangener Straftaten. Ein tatfixiertes Strafrecht schien den bürgerlichen Kritikern der<br />

frühneuzeitlichen <strong>Strafjustiz</strong> dazu angetan, jede obrigkeitliche Willkür zu beseitigen <strong>und</strong> gleichzeitig eine<br />

effiziente Erfüllung der Strafzwecke der Abschreckung, respektive der Wiederherstellung der Rechtsord-<br />

nung zu gewährleisten. Gleichzeitig machte das neue Strafparadigma die Selbstbestimmungsfähigkeit zur<br />

Voraussetzung der Strafbarkeit des Individuums. Paradoxerweise wurde dadurch ein täterbezogenes Mo-<br />

ment in ein ansonst tatfixiertes Strafrecht eingeführt. Die Zurechnungsfähigkeit markierte denn auch jene<br />

Stelle, an der eine in der Tradition der Erfahrungsseelenk<strong>und</strong>e stehende kritische Variante der bürgerli-<br />

chen Willenssemantik <strong>und</strong> mit ihr die aufstrebende Disziplin der «psychischen Ärzte» das neue Strafpara-<br />

digma zu unterminieren drohten. Die Frage, ob straffällige Individuen lediglich als «Automaten»<br />

(Reil/Hoffbauer), also willenlos <strong>und</strong> damit schuldlos, handelten, reichte an die Gr<strong>und</strong>feste des bürgerlichen<br />

Schuldstrafrechts. Neue medizinische Deutungsmuster wie die «Wut ohne Verkehrtheit» (Reil) oder<br />

die monomanie instinctive (Esquirol), die explizit das Vorhandensein der Willensfreiheit bei der Begehung<br />

scheinbar sinnloser Delikte in Zweifel zogen, stiessen denn auch seitens der Justiz <strong>und</strong> teilweise auch in-<br />

nerhalb der Medizin auf Kritik. Im Gegenzug sah die junge «Seelenheilk<strong>und</strong>e» in solchen Deutungsmus-<br />

tern eine willkommene Möglichkeit, die bereits von der älteren Gerichtsmedizin vorgebrachten Kompe-<br />

tenzansprüche gegenüber der <strong>Strafjustiz</strong> zu akzentuieren <strong>und</strong> eine Monopolisierung der Begutachtung<br />

zweifelhafter Gemütszustände vor Gericht zu fordern. Die zeitweise heftigen «Grenzdispute» zwischen<br />

Juristen <strong>und</strong> Medizinern um Begutachtungskompetenzen <strong>und</strong> den Stellenwert medizinischer Gutachten<br />

entschärften sich nach 1830 allerdings insofern, als sich allmählich eine stabile Aufgabenteilung zwischen<br />

den beiden Disziplinen herauskristallisierte. Die Bezugssysteme der <strong>Strafjustiz</strong> <strong>und</strong> der Medizin wurden<br />

dadurch definitiv über den Rechtsbegriff der Zurechnungsfähigkeit miteinander gekoppelt. Die Ärzte<br />

erreichten dabei die Anerkennung ihrer Kompetenz zur Beurteilung zweifelhafter Gemütszustände. Im<br />

Gegenzug behielt sich die Justiz die endgültige Entscheidung über die rechtliche Frage der Zurechnungs-<br />

fähigkeit vor. Diese Grenzziehung zwischen Justiz <strong>und</strong> <strong>Psychiatrie</strong> bereitete in der Justizpraxis einer –<br />

entgegen des eingangs zitierten Votums von Groos – auf Ausnahmefälle beschränkten Medikalisierung<br />

kriminellen Verhaltens den Weg, ohne dass dadurch das bürgerliche Strafrecht umgeschrieben worden<br />

wäre. Dadurch wurde ein Normalitätsdispositiv bekräftigt, das medizinische Deutungen kriminellen Ver-<br />

haltens auf vergleichsweise seltene Ausnahmefälle beschränkte. Die Kompetenzverteilung zwischen der<br />

bürgerlichen <strong>Strafjustiz</strong> <strong>und</strong> der entstehenden <strong>Psychiatrie</strong> stabilisierte sich um die Jahrh<strong>und</strong>ertmitte so<br />

weit, dass sie erst im letzten Drittel des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts wieder durch eine neue Generation psychiatrisch-<br />

kriminologischer Deutungsmuster in Frage gestellt wurde. Diese sollten sich dann nicht mehr auf eine<br />

Pathologisierung einzelner «Seelenvermögen» beschränken, sondern den «abnormen Charakter» von Straf-<br />

täterInnen ins Visier nehmen.<br />

disorder or defect of the intellect or knowing and reasoning faculties, and particularly without any insane illusion or hallucination.»;<br />

zitiert: Werlinder, 1878, 38.<br />

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