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Psychiatrie und Strafjustiz

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oder strafausschliessende Gründe zu. Im Burghölzli wurden zwischen 1905 <strong>und</strong> 1928 57% der untersuch-<br />

ten StraftäterInnen als unzurechnungsfähig, 20% als vermindert zurechnungsfähig <strong>und</strong> 23% als voll zu-<br />

rechnungsfähig bef<strong>und</strong>en. 754 Die Berner Gutachten wiesen demgegenüber einen um knapp 10% höheren<br />

Anteil an vermindert Zurechnungsfähigen <strong>und</strong> einen entsprechend geringeren Anteil an Zurechnungsfähi-<br />

gen auf.<br />

Männer <strong>und</strong> Frauen wurden etwa im gleichen Ausmass als vollständig unzurechnungsfähig begutachtet<br />

(63,2%, respektive 62,5%). Stärker vertreten waren bei den Frauen die auf verminderte Zurechnungsfä-<br />

higkeit lautenden Gutachten (35,0% gegenüber 28,4% bei den Männern). Entsprechend geringer fiel der<br />

Anteil an zurechnungsfähigen Straftäterinnen aus. Die Berner Psychiater hielten somit die strafrechtliche<br />

Verantwortlichkeit von Straftäterinnen vergleichsweise häufiger für vermindert oder ganz aufgehoben als<br />

bei männlichen Delinquenten. Dies war zum einen eine Folge der bereits gemachten Feststellung, dass<br />

Frauen häufiger als Männer psychiatrisch durch Diagnosen aus dem «Grenzbereich» zwischen Ges<strong>und</strong>heit<br />

<strong>und</strong> Krankheit erfasst wurden. Zum andern erhärtet dieser Bef<strong>und</strong> die Annahme, wonach die Bereitschaft<br />

der Psychiater, kriminelles Verhalten von Frauen in Fällen, wo keine eigentliche Geisteskrankheit festzustellen<br />

war, durch eine «abnormen Konstitution» zu erklären <strong>und</strong> teilweise zu exkulpieren, vergleichsweise<br />

grösser als bei Männern war. Straffällige Männer wurden demnach stärker als straffällige Frauen für ihre<br />

Handlungen verantwortlich gemacht. Gleichzeitig wurde bei Frauen die Schwelle zur Medikalisierung<br />

sozialer Devianz tiefer angesetzt. Diese geschlechtsspezifische Exkulpationspraxis war letztlich Ausdruck<br />

einer Geschlechterordnung, die dem männlichen (Staats-)Bürger ein höheres «Normalmass» an Vernunft<br />

<strong>und</strong> sozialer Verantwortlichkeit zubilligte als dem so genannten «schwachen Geschlecht». Für die betrof-<br />

fenen Frauen hatte dies unter Umständen zur Folge, dass sie dank der Zubilligung einer verminderten<br />

Zurechnungsfähigkeit weniger hart bestraft wurden, gleichzeitig war bei ihnen die Chance höher, als<br />

«krankhafte Charaktere» stigmatisiert <strong>und</strong> dem institutionellen Zugriff der <strong>Psychiatrie</strong> ausgesetzt zu wer-<br />

den.<br />

Die im Berner Strafgesetzbuch vorgesehene psychologische Definition der Zurechnungsfähigkeit erlaubte<br />

den psychiatrischen Sachverständigen nicht, ihre Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit lediglich in Form<br />

einer medizinischen Diagnose abzugeben. Sie hatten vielmehr Fragen nach dem Fehlen oder Vorhanden-<br />

sein der gesetzlichen Kriterien der Strafeinsicht <strong>und</strong> der Willensfreiheit zu beantworten. Dementspre-<br />

chend war es ihnen kaum möglich, feste medizinische Kriterien zur Beurteilung der Frage der Zurech-<br />

nungsfähigkeit aufzustellen. Besonders deutlich wurde dies bei Zustandsbildern, die an der Grenze zwi-<br />

schen Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Krankheit lagen. Gemäss einschlägigen psychiatrischen Lehrbüchern sollte denn<br />

auch der nahe liegende Schluss, «PsychopathInnen» <strong>und</strong> andere «Grenzfälle» als vermindert zurechnungs-<br />

fähig zu beurteilen, nicht vorschnell gezogen werden. 755 Zudem war die psychiatrische scientific community<br />

selbst uneinig, wie die Grenzen der Verantwortlichkeit bei ausgesprochenen «Grenzzustände» wie dem<br />

«moralischen Schwachsinn» zu ziehen seien. 756 Dennoch zeigen die untersuchten Gutachten, dass in der<br />

forensisch-psychiatrischen Praxis im Kanton Bern eine statistische nachweisbare Korrelation zwischen<br />

einzelnen Diagnosegruppen <strong>und</strong> dem Grad der Zurechnungsfähigkeit bestand. Tabelle 5 zeigt die Beurtei-<br />

lung der Zurechnungsfähigkeit durch die Sachverständigen bei den drei in forensischer Hinsicht bedeu-<br />

tendsten Diagnosegruppen.<br />

754 Manser, 1932, 8.<br />

755 Vgl. Delbrück, 1897, 184.<br />

756 Vgl. Kp. 9.2.<br />

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