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Psychiatrie und Strafjustiz

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tisch unannehmbar» abgelehnt hatte. 555 Zum andern bezeichnete Stooss seinen Antrag als durch den<br />

«Wunsch nach Verständigung mit den Gegnern» motiviert. 556 Angesichts der Heftigkeit der Debatte von<br />

1893 erstaunt die Leichtigkeit dieses Richtungswechsels. Dieser wird indes plausibel, wenn berücksichtigt<br />

wird, dass es sich in Stooss’ Augen bei der Definition der Zurechnungsfähigkeit «keineswegs um eine kri-<br />

minalpolitisch wichtige Frage» handelte. 557 Stooss war 1903 vielmehr bereit, die den Psychiatern gewährten<br />

Arbeitserleichterungen in Form der medizinischen Definition zugunsten einer dogmatischen Einheit mit<br />

dem Zivilrecht <strong>und</strong> einer einvernehmlichen Lösung mit seinen Kritikern zu opfern. Der Vorentwurf von<br />

1903 definierte den Zustand der Unzurechnungsfähigkeit schliesslich folgendermassen: «Wer zur Zeit der<br />

Tat ausser Stande war, vernunftgemäss zu handeln, wer insbesondere zur Zeit der Tat in seiner geistigen<br />

Ges<strong>und</strong>heit oder in seinem Bewusstsein in hohem Grade gestört war, ist nicht strafbar». 558<br />

Seitens der Schweizer Irrenärzte stiess der Richtungswechsel von 1903 auf harsche Kritik. Im Namen des<br />

Vereins schweizerischer Irrenärzte verlangte Eugen Bleuler in einem Schrieben an das Eidgenössische Justizde-<br />

partement die Rückkehr zur Bestimmung von 1893. 559 In einem kurz darauf in der Monatsschrift für Krimi-<br />

nalpsychologie <strong>und</strong> Strafrechtsreform veröffentlichten Beitrag begründete Bleuler diese Kritik in erster Linie mit<br />

der praktischen Unbrauchbarkeit des Kriteriums des «vernunftgemässen Handelns». Gleichzeitig betonte<br />

er, dass es für den psychiatrischen Sachverständigen in erster Linie darum gehe, Krankheitszustände fest-<br />

zustellen. Kriterium für diese Feststellung sei das Auftreten eines «Novum im Sein des Menschen», das<br />

heisst eine Persönlichkeitsveränderung. Sei diese einmal nachgewiesen, dürfe man, so Bleuler, «ganz ruhig<br />

den Patienten als unzurechnungsfähig erklären». 560 Die Kritik der Schweizer Irrenärzte bewog Stooss<br />

schliesslich, der Expertenkommission 1908 den Ersatz der nun als «unglücklich» bezeichneten Fassung<br />

von 1903 zugunsten der Fassung von 1893 vorzuschlagen. Auch bei dieser Gelegenheit betonte Stooss,<br />

dass damit keineswegs eine Kompetenzverschiebung zugunsten der Psychiater verb<strong>und</strong>en sei: «Die An-<br />

nahme, diese [medizinische] Bestimmung überlasse den Ärzten die Entscheidung über die Zurechnungs-<br />

fähigkeit ist nicht richtig; das Gutachten der Sachverständigen bindet den Richter auch in diesem Fall<br />

nicht.» 561 Die Kommission ersetzte daraufhin die Bestimmung von 1903 durch eine Formulierung, die sich<br />

an der Fassung von 1893 orientierte: «Wer zur Zeit der Tat geisteskrank oder blödsinnig oder in seinem<br />

Bewusstsein schwer gestört war, ist nicht strafbar.» 562<br />

In der Expertenkommission von 1912 kritisierte namentlich Thormann die Fassung des Vorentwurfs von<br />

1908. Ähnlich wie Gretener schlug er vor, die Zurechnungsfähigkeit nach der gemischten Methode zu<br />

umschreiben. Auch wenn progressive Strafrechtsreformer wie Zürcher <strong>und</strong> Gautier in der Kommission<br />

nochmals die Vorteile einer medizinischen Umschreibung betonten, zeigte sich, dass die meisten Kom-<br />

missionsmitglieder der Definitionsfrage keinen grossen Stellenwert mehr einräumten <strong>und</strong> nur zu gern auf<br />

den Vermittlungsvorschlag eintraten. 563 Der von der Kommission verabschiedete Vorentwurf sowie die<br />

555 BAR E 22 (-), Band 2025, Auszug aus dem Protokoll der Versammlung des Vereins schweizerischer Irrenärzte in Solothurn<br />

am 25. u. 26. Mai 1896.<br />

556 BAR E 4110 (A) -/42, Band 28, Abänderungsanträge von Prof. Stooss an die Expertenkommission, 6. Februar 1902; BAR E<br />

4110 (A) -/42, Band 29, Protokoll der Expertenkommission, Band III, Sitzung vom 12.März 1902. Die Annahme Gschwends,<br />

dass die Richtungsänderung, die von der Expertenkommission von 1903 vorgenommen wurde, auf die Tatsache zurückzuführen<br />

sei, dass Stooss an den Verhandlungen nicht persönlich teilnahm, erweist sich somit als unzutreffend (Gschwend, 1996, 533,<br />

Gschwend, 1994, 51).<br />

557 BAR E 4110 (A) -/42, Band 28, Abänderungsanträge von Prof. Stooss an die Expertenkommission, 6. Februar 1902.<br />

558 VE 1903, Art. 16.<br />

559 BAR E 4110 (A) -/42, Band 31, Schreiben Eugen Bleulers an das EJPD, 20. September 1904.<br />

560 Bleuler, 1904a, 627; BAR E 4110 (A) -/42, Band 31, Schreiben Bleulers ans EJPD, 10. Januar 1905.<br />

561 Stooss, 1909, 7.<br />

562 VE 1908, Artikel 14 (siehe Anhang 1); Zürcher, 1914, 39-43; BAR E 4110 (A) -/42, Band 32, Protokoll der Expertenkommission,<br />

Sitzung vom 2. November 1908.<br />

563 Expertenkommission, 1912 I, 110-116, 124-128.<br />

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