17.12.2012 Aufrufe

Amtliches Bulletin der Bundesversammlung Bulletin officiel de l ...

Amtliches Bulletin der Bundesversammlung Bulletin officiel de l ...

Amtliches Bulletin der Bundesversammlung Bulletin officiel de l ...

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

2. Juni 1997 N 895 OSZE/Europarat. Berichte<br />

Abschliessend bleibt noch eine Minute zur Behandlung <strong>de</strong>s<br />

Berichtes <strong><strong>de</strong>r</strong> OSZE-Delegation. Hier sei festgestellt, dass<br />

Sie, Herr Cotti, als Präsi<strong>de</strong>nt <strong><strong>de</strong>r</strong> OSZE ausgezeichnete Arbeit<br />

geleistet haben.<br />

Gren<strong>de</strong>lmeier Verena (U, ZH): Zum ersten: Herr Maspoli, es<br />

ist ohne Zweifel richtig, dass wir in diesem Land noch an<strong><strong>de</strong>r</strong>e<br />

Probleme haben. Das heisst aber keineswegs, dass wir <strong>de</strong>swegen<br />

die Probleme, die ausserhalb anstehen, nicht lösen<br />

sollten.<br />

Zum zweiten könnte ich mir <strong>de</strong>nken, dass gera<strong>de</strong> die Tatsache,<br />

dass die OSZE und <strong><strong>de</strong>r</strong> Europarat die einzigen internationalen<br />

Gremien sind, <strong>de</strong>nen wir angehören, eines <strong><strong>de</strong>r</strong> Probleme<br />

in <strong><strong>de</strong>r</strong> Schweiz ausmacht; wir sind immer mehr isoliert.<br />

Der Europarat ist das älteste und grösste Gremium in Europa.<br />

Er wur<strong>de</strong> 1949 gegrün<strong>de</strong>t, ist also <strong>de</strong>mnächst einmal<br />

50 Jahre alt. Die Schweiz ist Mitglied – man <strong>de</strong>nke und<br />

staune – seit 1963; damals war so etwas noch möglich. Den<br />

Europarat muss man als eine urwesteuropäische Kongregation<br />

o<strong><strong>de</strong>r</strong> einen im alten Sinn westeuropäischen Verbund bezeichnen.<br />

Der Schock über <strong>de</strong>n Zusammenbruch <strong><strong>de</strong>r</strong> Sowjetunion sass<br />

tief und sitzt noch immer tief, nicht nur im Zusammenhang mit<br />

<strong>de</strong>m Europarat. Manchmal hat man ein bisschen <strong>de</strong>n Eindruck,<br />

dass sich viele Leute nach <strong>de</strong>m guten alten Moskau<br />

sehnen: Gebt uns <strong>de</strong>n guten alten Feind wie<strong><strong>de</strong>r</strong>, damit wir<br />

wissen, wo die Guten und wo die Bösen sitzen!<br />

Inzwischen aber haben wir feststellen können – das ist an<br />

und für sich erfreulich –, dass nach <strong>de</strong>m Fall <strong><strong>de</strong>r</strong> Mauer immer<br />

mehr Län<strong><strong>de</strong>r</strong> Mitglied dieses Gremiums wer<strong>de</strong>n möchten.<br />

Sie möchten es sozusagen als eine «Schule <strong><strong>de</strong>r</strong> Demokratie»<br />

benutzen. Es gibt keine bessere «Schule <strong><strong>de</strong>r</strong> Demokratie»<br />

als <strong>de</strong>n Europarat.<br />

Man lernt an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Kollegen kennen, man lernt an<strong><strong>de</strong>r</strong>e <strong>de</strong>mokratische<br />

Systeme kennen, man lernt damit umzugehen. Das<br />

ist vor allem wichtig für die Län<strong><strong>de</strong>r</strong>, die lange genug unter einer<br />

Diktatur gelitten haben. So weit, so gut.<br />

Die Be<strong>de</strong>nken, die hier von verschie<strong>de</strong>ner Seite geäussert<br />

wor<strong>de</strong>n sind und die wir schon vor zwei Jahren diskutiert haben,<br />

teile ich. Herr Gross Andreas schaut mich jetzt sehr<br />

böse und kritisch an. Wir müssen uns doch irgendwann einmal<br />

die Frage stellen: Reicht <strong><strong>de</strong>r</strong> Reformwille, <strong><strong>de</strong>r</strong> Wille zur<br />

Straffung, aus, um diesem Gremium wie<strong><strong>de</strong>r</strong> jene Kraft zu geben,<br />

die es ursprünglich hatte? Ich habe meine Zweifel. Im<br />

Moment sind es vierzig Mitglie<strong><strong>de</strong>r</strong>, und weitere stehen vor <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Türe und möchten auch hinein. Es gibt vermutlich für je<strong>de</strong>n<br />

Verein eine gewisse i<strong>de</strong>ale Grösse. Zu<strong>de</strong>m ist <strong><strong>de</strong>r</strong> Europarat<br />

in einem so schnellen Tempo gewachsen, dass er sich selber<br />

nicht mehr in <strong>de</strong>n Griff bekommt.<br />

Wozu führt das? Wir haben letztes und vorletztes Jahr mehrmals<br />

über die Beitrittsbedingungen gere<strong>de</strong>t, die man beispielsweise<br />

Russland stellt. Russland ist nach wie vor eine<br />

grosse Macht. Russland wollte in <strong>de</strong>n Europarat. Der gute<br />

Wille <strong>de</strong>s Europarates war: «Lassen wir Russland hinein, es<br />

wird sich dann aufgrund unserer Grosszügigkeit und durch<br />

unsere Überzeugungskraft an <strong>de</strong>mokratische Regeln halten.»<br />

Ich fürchte, das ist eine Illusion.<br />

Für mich besteht für <strong>de</strong>n Europarat zurzeit die Gefahr in einer<br />

gewissen Gier nach Grösse. Die Grösse Europas wur<strong>de</strong> nie<br />

<strong>de</strong>finiert. Herr Ruffy hat zwar gesagt, das spiele im Grun<strong>de</strong><br />

genommen keine Rolle, auch sehr weit östlich fin<strong>de</strong> man europäisches<br />

Gedankengut, europäische Kultur. Da bin ich mit<br />

ihm einverstan<strong>de</strong>n. Trotz<strong>de</strong>m: Macht es Sinn, dass man, nur<br />

um noch grösser zu wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>n Level, <strong>de</strong>n Beitrittslevel,<br />

herabsetzt? Ich kann mich erinnern: Ungarn und die Tschechoslowakei<br />

mussten in <strong>de</strong>n frühen neunziger Jahren noch<br />

sehr strenge «Prüfungen» ablegen, um <strong>de</strong>n Standard zu erfüllen.<br />

Je mehr Län<strong><strong>de</strong>r</strong> jetzt in <strong>de</strong>n Europarat drängen, <strong>de</strong>sto<br />

larger scheint man mit <strong>de</strong>n Bedingungen zu wer<strong>de</strong>n. Damit<br />

passiert etwas, das ich für absolut verhängnisvoll halte.<br />

Diese Gremium verkommt zu einer gewissen Beliebigkeit, ist<br />

eigentlich nur noch interessiert daran, gross zu wer<strong>de</strong>n und<br />

allen die Tür zu öffnen.<br />

Herr Gross Andreas, ich wie<strong><strong>de</strong>r</strong>hole, was ich in <strong><strong>de</strong>r</strong> Kommissionssitzung<br />

gesagt habe: Der Europarat stellt per Definition<br />

<strong>Amtliches</strong> <strong>Bulletin</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Bun<strong>de</strong>sversammlung</strong><br />

keine Macht dar und will auch keine sein. Er ist keine wirtschaftliche<br />

Macht und keine militärische Macht. Der Europarat<br />

ist eine Kraft – das ist ein grosser Unterschied –, und zwar<br />

eine moralische Kraft. Wo ich aber meinen eigenen Standard<br />

herabsetze, dort verleugne ich meine eigenen I<strong>de</strong>en.<br />

Ich möchte die Mitglie<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Europarats<strong>de</strong>legation bitten, in<br />

aller Form darauf zu drängen, dass dieses Monitoringsystem<br />

anfängt zu greifen, wenn das überhaupt möglich ist; <strong>de</strong>nn ich<br />

zweifle daran, dass sich grosse und letztlich auch mächtige<br />

Län<strong><strong>de</strong>r</strong> wie Russland als Mitglie<strong><strong>de</strong>r</strong> noch sehr darum kümmern<br />

wer<strong>de</strong>n, ob sie jetzt ihre <strong>de</strong>mokratischen Standards angehoben<br />

haben o<strong><strong>de</strong>r</strong> nicht.<br />

Zusammenfassend: Ich fin<strong>de</strong>, dass <strong><strong>de</strong>r</strong> Europarat, aber auch<br />

die OSZE – das ist das zweite Gremium und das einzige, wo<br />

wir Vollmitglied sind und sogar das Präsidium innegehabt haben<br />

– für ein Land, das sich immer mehr einzuigeln droht,<br />

weiterhin Schrittmacher bleiben müssen; dies zum Beweis,<br />

dass es eine Welt ausserhalb unserer Grenzen gibt und dass<br />

die Schweizer durchaus auch einen Beitrag leisten können,<br />

und zwar einen Beitrag zur Demokratie.<br />

Die LdU/EVP-Fraktion nimmt in zustimmen<strong>de</strong>m Sinne Kenntnis<br />

von <strong>de</strong>n drei Berichten.<br />

Gross Andreas (S, ZH): Frau Gren<strong>de</strong>lmeier, das Problem ist<br />

nicht, dass Sie skeptisch sind und Zweifel haben; <strong><strong>de</strong>r</strong> Zweifel<br />

ist <strong><strong>de</strong>r</strong> Anfang je<strong><strong>de</strong>r</strong> guten Philosophie und damit auch je<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

guten Politik. Das Problem – in <strong><strong>de</strong>r</strong> Art, wie Sie die gegenwärtigen<br />

Herausfor<strong><strong>de</strong>r</strong>ungen <strong>de</strong>s Europarates betrachten – ist<br />

vielmehr, dass Sie die Gründung <strong>de</strong>s Europarates zu westeuropäisch<br />

sehen o<strong><strong>de</strong>r</strong> analysieren und vom bösen Wort <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

«Gier nach Grösse» irregeführt wer<strong>de</strong>n.<br />

Der erste Präsi<strong>de</strong>nt <strong><strong>de</strong>r</strong> Parlamentarischen Versammlung<br />

<strong>de</strong>s Europarates, Herr Spaak, ist zurückgetreten, weil er verzweifelt<br />

darüber war, dass das Ziel, dass Europäer am Aufbau<br />

einer echten europäischen Gesellschaft mitwirken,<br />

schon damals zu gering geschätzt wur<strong>de</strong>. Es gab kein westeuropäisches<br />

Ziel <strong>de</strong>s Europarates, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n das Ziel war,<br />

auf <strong>de</strong>n Trümmern <strong>de</strong>s Krieges gemeinsam eine Gesellschaft<br />

aufzubauen, in <strong><strong>de</strong>r</strong> ein solcher Krieg nie mehr stattfin<strong>de</strong>n<br />

wür<strong>de</strong>. Frie<strong>de</strong>n kann man nur mit <strong>de</strong>n Fein<strong>de</strong>n machen.<br />

Deshalb war <strong><strong>de</strong>r</strong> Gedanke, <strong>de</strong>n Graben zu überwin<strong>de</strong>n, <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

nach <strong>de</strong>m Zweiten Weltkrieg zu Beginn <strong>de</strong>s kalten Krieges<br />

entstand, von Anfang an eines <strong><strong>de</strong>r</strong> Hauptziele <strong>de</strong>s Europarates.<br />

In <strong>de</strong>m Sinne konnte er nach 1989 endlich wie<strong><strong>de</strong>r</strong> darauf<br />

zurückkommen, weil das im kalten Krieg letztlich eine unmögliche<br />

Aufgabe war.<br />

Der Europarat ist auch keine «Schule» – <strong>de</strong>nn Schule heisst:<br />

Es gibt Lehrer, und es gibt Schüler –, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n <strong><strong>de</strong>r</strong> Europarat<br />

ist ein Ort, wo wir gemeinsam lernen. Das Monitoring ist<br />

keine Schulmeisterei und keine Besserwisserei, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n das<br />

Monitoringkomitee und <strong><strong>de</strong>r</strong> Monitoringprozess gewähren die<br />

Möglichkeit, dass je<strong>de</strong>s Mitglied in diesem Komitee und je<strong>de</strong><br />

Delegation ständig auf je<strong>de</strong>s Land zukommen kann, das<br />

Grundprinzipien <strong><strong>de</strong>r</strong> menschenrechtlichen, <strong>de</strong>mokratischen,<br />

marktwirtschaftlichen und rechtsstaatlichen Entwicklung vernachlässigt.<br />

Je<strong>de</strong>s Land kann in je<strong>de</strong>m Moment auf je<strong>de</strong>s an<strong><strong>de</strong>r</strong>e<br />

Land zukommen, nicht nur z. B. die alten auf die neuen.<br />

Es ist ganz wichtig – um als Europäer o<strong><strong>de</strong>r</strong> als Europäerin am<br />

Aufbau dieser europäischen Gesellschaft mitzuwirken –,<br />

dass wir uns bewusst sind, dass diese Werte Lernprozesse<br />

darstellen. Es ist wichtig, das mit jenen Län<strong><strong>de</strong>r</strong>n und Menschen<br />

zu versuchen, die bereit sind, es zu tun, und im Wissen,<br />

dass je<strong><strong>de</strong>r</strong> von uns, je<strong>de</strong>s Land – wir müssen gar nichts<br />

sagen; wir waren Mitglied <strong>de</strong>s Europarates, ohne dass die<br />

Frauen das Stimmrecht hatten – auch vor <strong><strong>de</strong>r</strong> eigenen Haustüre<br />

wischen muss.<br />

Das Problem <strong>de</strong>s Europarates ist meiner Meinung nach nicht<br />

Russland, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n vielmehr eines <strong><strong>de</strong>r</strong> kleinsten und ärmsten<br />

Mitgliedlän<strong><strong>de</strong>r</strong>, nämlich Albanien. Dort haben wir gezeigt,<br />

dass wir versagt haben. Wir haben uns viel zu stark auf das<br />

legalistische Prinzip ausgerichtet und haben viel zu sehr vernachlässigt,<br />

dass je<strong>de</strong>s Recht nur so weit einen Wert hat, als<br />

je<strong><strong>de</strong>r</strong> Mann und je<strong>de</strong> Frau es auch nutzen können. Die Verfassung<br />

als Buch reicht noch nicht, wenn die Menschen existentiell<br />

nicht in <strong><strong>de</strong>r</strong> Lage sind, diese Rechte wahrzunehmen.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!