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6. Altenbericht

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zunehmend zu Menschen „von gestern“. Dieses negative Altersbild galt vor allem für die<br />

Mittellosen und die von harter körperlicher Arbeit lebende Unterschicht und damit für die<br />

weit überwiegende Mehrheit der Bevölkerung. Dagegen tendierte das Altersbild der obersten<br />

Gesellschaftsschichten, der Einflussreichen und Mächtigen, mehr ins Positive,<br />

zumal Macht zumeist auf Besitz aufbaute, der es den Machthabern erlaubte, der Kraft<br />

zehrenden Arbeit und der frierend-feuchten Armut sowie deren negativen Folgen für das<br />

Alter auszuweichen (Borscheid 1989).<br />

Gleichwohl war Macht immer auch mit einem Pflichtenkatalog verbunden, den sowohl ein<br />

Regent als auch ein einfacher Haushaltsvorstand gegenüber den Untergebenen und<br />

Schutzbefohlenen abzuarbeiten hatte. Dazu zählten Fürsorgepflichten in Notzeiten oder<br />

im Unglücksfall, und als Familienoberhaupt hatten der ältere Bauer, der Handwerksmeister<br />

oder der Kaufmann alles zu unterlassen, was ihr Vermögen zum Schaden der eigenen<br />

Kinder schmälerte. Es war ihnen untersagt, Hab und Gut zu ihrem alleinigen, persönlichen<br />

Nutzen einzusetzen und zu verwirtschaften. Zusätzlich unterlagen sie der Pflicht zur Erfüllung<br />

allgemein gültiger, rigider moralischer Grundsätze, die auch die Mächtigsten in ein<br />

enges Korsett sittlicher Forderungen einschnürten. Tun und Erscheinungsbild der Älteren<br />

in der Öffentlichkeit unterlagen strikten Regeln, deren Einhaltung vor allem in der gläsernen<br />

Welt des Dorfes und der Kleinstadt von den Mitmenschen streng kontrolliert und Zuwiderhandlungen<br />

hart sanktioniert wurden. Bei Nichtbefolgung konnte sich ein positives<br />

Altersbild umgehend in sein Gegenteil verkehren, während Verantwortungsbewusstsein<br />

und Sittsamkeit zu einer Aufwertung des Alters beitrugen. Der alte Mensch diente als<br />

zentrale Figur im gesellschaftlichen Moraldiskurs. Er eignete sich vortrefflich für die binäre<br />

Form, in der dieser geführt wurde: fromm oder falsch, selbstlos oder selbstsüchtig, intelligent<br />

oder idiotisch. Das Altersbild zielte hierbei auf die Lebensleistung des Einzelnen ab,<br />

nicht auf die Zahl seiner Lebensjahre.<br />

Die von wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedingungen sowie moralischen Regeln<br />

modellierten Altersbilder unterschieden zudem nach dem Geschlecht, obwohl der Einfluss<br />

dieses Faktors gegenüber den normativen Elementen nicht sonderlich ins Gewicht fiel.<br />

Die Bewertung der älteren verheirateten Frau war in erster Linie abhängig von dem Prestige,<br />

das ihrem Mann zuteil wurde, wobei wiederum Vermögen und Macht den entscheidenden<br />

Ausschlag gaben, ferner die Erfüllung allgemein gültiger Normen. Obwohl die<br />

Einschätzung der älteren wohlhabenden Witwe nicht ins Negative tendierte, war ihr sozialer<br />

Status gleichwohl instabiler als der von Witwern. Zu den eigentlichen Problemgruppen<br />

zählten jedoch bis weit ins 20. Jahrhundert ältere Witwen aus unteren Sozialschichten wie<br />

auch die meisten der lebenslang ledig gebliebenen älteren Frauen. Sie lieferten der Literatur<br />

über Jahrhunderte hinweg reichlich Stoff für Elendsschilderungen, die in einem ent-<br />

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