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6. Altenbericht

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Schwerindustrie und in anderen Branchen schloss die Hälfte der Betriebe Massenentlassungen<br />

beziehungsweise Pensionierungen älterer Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen bei<br />

einer weitergehenden Rationalisierung schon nicht mehr aus. Lediglich eine Minderheit,<br />

vor allem Großunternehmen, stellten ältere Arbeiter und Arbeiterinnen aufgrund von<br />

Facharbeitermangel oder des vorangegangenen Zusammenbruchs der Pensionskasse<br />

unter ihren besonderen Schutz. Davon abgesehen strebten aber alle untersuchten Unternehmen<br />

nach einer „planmäßigen Verjüngung“ der Belegschaft, mehrheitlich mit Hilfe der<br />

Einstellungspolitik. Erstmals wurde auch das Instrument der Frühverrentung von zahlreichen<br />

Betrieben systematisch eingesetzt (Penkert 1998: 37f.). Gleichzeitig kam eine von<br />

den Deutschen Arbeitgeberverbänden in Auftrag gegebene, breit angelegte Untersuchung,<br />

die zwischen 1927 und 1930 durchgeführt wurde, zu dem Ergebnis, dass in vielen<br />

Fällen ein hohes Dienstalter der Arbeiter und Arbeiterinnen sich für die Wirtschaftlichkeit<br />

eines Unternehmens als vorteilhafter erwies als eine verjüngte Belegschaft. Diese Ansicht<br />

konnte sich jedoch nicht gegen die von den Psychotechnikern vertretene durchsetzen.<br />

Die zunächst schwankende Haltung der Industrie gegenüber den älteren Arbeitern und<br />

Arbeiterinnen änderte sich grundlegend ab dem Jahre 1929. Bei der IG Farben fasste die<br />

so genannte Sozialkommission im September mit Beginn der zweiten Rationalisierungswelle<br />

den Beschluss, bei der Reduzierung der Beschäftigtenzahlen rein schematisch vorzugehen<br />

und nur noch Dienst- und Lebensalter als Kriterium gelten zu lassen. Gekündigt<br />

wurde allen Arbeitern, Arbeiterinnen und Angestellten mit einer Dienstzeit von bis zu fünf<br />

Jahren sowie allen über 60-Jährigen, zwei Monate später allen über 55-Jährigen. Als im<br />

Jahre 1930 die Weltwirtschaftskrise voll griff, wurden auch die über 50-Jährigen in großem<br />

Umfang entlassen (Penkert 1998). Andere Industriezweige folgten dieser Praxis.<br />

Bis zu dieser Zeit war es allgemein geübte Praxis, älteren, körperlich sehr stark beanspruchten<br />

Arbeitenden leichtere Tätigkeiten zu übertragen. Die systematische Entlassung<br />

älterer Arbeiter, Arbeiterinnen und Angestellter musste demgegenüber als Diskriminierung<br />

der Älteren und des Alters erscheinen. Nicht nur die Angestelltenverbände protestierten<br />

vehement dagegen. Siegfried Kracauer sprach von einer „Massenpsychose“ einer die<br />

Jugend verherrlichenden Zeit. Er schrieb: „In der Tat übersteigt die heute dem Alter entgegengebrachte<br />

Geringschätzung seine Kostspieligkeit. […] Dass man dem Alter gegenüber<br />

rücksichtsloser verfährt, als vielleicht sogar im Interesse der Rentabilität der Betriebe<br />

erforderlich wäre, rührt zuletzt von dem allgemeinen Preisgegebensein des Alters in der<br />

Gegenwart her. Nicht nur die Arbeitgeberschaft – das gesamte Volk hat sich von ihm abgewandt<br />

und verherrlicht auf bestürzende Weise die Jugend an sich“ (Kracauer 1971: 51).<br />

Auch viele andere Zeitgenossen kritisierten diese Aufwertung der Jugend und die Abwertung<br />

des Alters, die in der Einführung des jugendlichen Körperbildes wie auch der Aus-<br />

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