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Kinderund

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Drucksache 18/11050 – 110 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode<br />

gänzt durch Verweise auf die Dynamik systemischer Differenzierungen, die Folgen fortschreitender Kapitalisierung,<br />

den Wandel sozialstaatlicher Vergesellschaftung u. a. (vgl. z. B. Bonacker/Reckwitz 2007; Dörre u. a.<br />

2009). So allgemein anerkannt diese Zeitdiagnosen auch erscheinen, so sind im Kontext dieses Jugendberichtes<br />

zwei Differenzierungen notwendig.<br />

Auch wenn die beschriebenen Entwicklungen mit ihren Auswirkungen ein Kennzeichen spätmoderner Gesellschaften<br />

darstellen, so sind es erstens Erfahrungen, die in unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen sehr<br />

unterschiedlich auftreten. Die beschriebenen Phänomene werden vorrangig gesellschaftlich sozial abgesicherten<br />

und privilegierten Bevölkerungsgruppen zugeschrieben, während es daneben prekäre und an den Rand gedrängte<br />

Bevölkerungsgruppen gibt, für die diese Erfahrungen ein Luxusproblem darstellen könnten.<br />

Zweitens ist geboten, unter einem intergenerationalen Blickwinkel die Unterschiede zwischen den Generationen<br />

bzw. – in dem hier anstehenden Zusammenhang – die Besonderheiten in Bezug auf Jugendliche und junge Erwachsene<br />

hervorzuheben (in Bezug auf Kinder vgl. Hengst/Zeiher 2005). Denn auch wenn die beschriebenen<br />

Dynamiken und ihre Auswirkungen (wie angedeutet) kein jugendtypisches Phänomen darstellen, so werden<br />

diese Erfahrungen im Jugend- und jungen Erwachsenenalter in spezifischer Weise konkret (vgl. Lüders 2007a),<br />

und es sind damit besondere Herausforderungen und Bewältigungsformen verbunden.<br />

Verdeutlicht werden kann dies anhand der drei Kernherausforderungen des Jugendalters. Sich „die Welt“ anzueignen<br />

und sich darin zu positionieren, gilt seit Langem als eine alterstypische, fast schon klassische Aufgabe<br />

des Jugendalters. So wird nach wie vor gesellschaftlich erwartet, dass Jugendliche und junge Erwachsene eine<br />

eigene, vergleichsweise stabile und adressierbare Integritätsbalance ausbilden und sich „in der Welt“ positionieren.<br />

Gleichzeitig thematisieren Debatten um den „flexiblen Menschen“ (Sennett 1999), die „proteische Persönlichkeit“<br />

(Lifton 2003), die sogenannte Patchwork-Identität (Keupp u. a. 2002) oder um situative, fluide u. ä.<br />

Identitäten, dass unter den Bedingungen spätmoderner, hochgradig heterogener Gesellschaften die Entwicklung<br />

von so etwas wie einer eigenen Identität und einer Position in der Welt realiter nicht mehr recht vorstellbar sei,<br />

mindestens aber vielfältige neue Herausforderungen und Risiken in sich berge. Die dafür notwendig werdenden<br />

Aneignungsprozesse werden unvermeidlich aufwendiger, langwieriger und komplexer (weil reflexiver), aber<br />

auch anstrengender und sind immer nur vorbehaltlich gültig. Angesichts der Erwartungen an eine nicht nur<br />

selbstbestimmte und selbst verantwortete, sondern auch zu ständiger Selbstoptimierung bereiter Lebensführung<br />

(vgl. Bröckling 2007) werden die damit verbundenen Anforderungen für jede Einzelne und jeden Einzelnen –<br />

gerade auch im Jugend- und jungen Erwachsenenalter – noch einmal gesteigert (vgl. Abs. 1.1).<br />

Die Lebenswirklichkeit junger Menschen ist nämlich gerade nicht von einem allgemeinen Mangel an Entscheidungsoptionen<br />

gekennzeichnet, sondern im Gegenteil durch vielfältige Entscheidungsverpflichtungen und -<br />

zwänge geprägt. Hinzu kommt, dass gerade junge Menschen in besonderer Weise gefordert sind, Entscheidungen<br />

zu treffen, deren ggf. weitreichende Auswirkungen sie kaum absehen können. Entscheidungen im Heute,<br />

z. B. bei der Wahl der Schule, der Ausbildung, aber auch der Lebensführung und des Sich-Leistens von Auszeiten,<br />

beeinflussen die Optionen im Morgen in hoch komplexer und damit auch sehr fordernder Art und Weise<br />

(vgl. hierzu auch Abs. 3.9).<br />

Vor diesem Hintergrund wird auch nachvollziehbar, warum sich Verselbstständigungsprozesse bei jungen Menschen<br />

heute verlängern, häufig in Schleifen verlaufen und mit vielfältigen Varianten des Erprobens von Lebensformen<br />

und -entwürfen verbunden sind. Was andernorts als „überforderte Generation“ (Bertram/Deuflhard<br />

2015) und als Verlagerung von ehemals für das Jugendalter typischen Herausforderungen in das dritte Lebensjahrzehnt<br />

(vgl. Arnett 2014) beschrieben wird, lässt sich als Konsequenz und Ausdruck der mittlerweile deutlich<br />

aufwendigeren Bewältigung der Kernherausforderungen des Jugendalters verstehen.<br />

Neben diesen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu leistenden individuellen Subjektivierungsprozessen<br />

lassen sich während der letzten zwei Jahrzehnte markante Veränderungen im institutionellen Gefüge des Aufwachsens<br />

beobachten und dies vor allem im Hinblick auf Lernen und Qualifikation. Wenn auch nicht für alle, so<br />

doch zumindest für große Gruppen junger Menschen, sind die Erwartungen an Lern- und Bildungsleistungen in<br />

den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen – zum Teil verbunden mit der Verkürzung der dafür zur Verfügung<br />

stehenden Zeit. Die Einführung des G8 ist dafür nur das prominenteste Beispiel – und die vereinzelten in diesem<br />

Zusammenhang durchgeführten Lehrplanreformen und -entschlackungen haben nur wenig davon aufgefangen.<br />

Vor allem aber war es die an weiterführenden Schulen nahezu flächendeckende Einführung von schulischen<br />

Veranstaltungen am Nachmittag, die aufseiten der Betroffenen das Gefühl aufkommen ließ, zunehmend keine<br />

Zeit mehr für sich und keine eigenen Gestaltungsspielräume zur Verfügung zu haben.

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