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Kinderund

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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 443 – Drucksache 18/11050<br />

Es kann aber davon ausgegangen werden, dass ein Konzept der körperlichen Schädigung nicht ausreichend ist<br />

und Behinderung insgesamt immer auch als gesellschaftliches Konstrukt zu betrachten ist (vgl. etwa Dederich<br />

2007; Waldschmidt/Schneider 2007). Es müssten ebenfalls die Normalitätsentwürfe von Körperlichkeiten im<br />

Jugendalter und die Möglichkeit, Abweichungen zu definieren, reflexiv hinterfragt werden. So sind manche<br />

Expertinnen und Experten skeptisch, ob die Definition nach der ‚International Classification of Functioning,<br />

Disability and Health‘ (ICF) dem Anspruch gerecht wird „einen integrativen ,biopsychosozialen Ansatz‘“<br />

(Weltgesundheitsorganisation 2005. S. 25) entwickelt zu haben: „Die Einlösung dieses Anspruchs kann bezweifelt<br />

werden, da durch eine Orientierung an dem Begriff der funktionalen Gesundheit die medizinische Herangehensweise<br />

dominant bleibt“ (Rohrmann/Weinbach 2017, S. 15). So wäre es auch zu kurz gegriffen, sich in den<br />

gegenwärtig diskutierten Weiterentwicklungen zur Kinder- und Jugendhilfe vor allem an den Definitionen nach<br />

der ICF zu orientieren.<br />

In bisherigen Kinder- und Jugendberichten wurde die institutionelle Trennung zwischen Kinder- und Jugendhilfe<br />

einerseits und Eingliederungshilfen andererseits immer wieder problematisiert. Spätestens seit dem 13. Kinder-<br />

und Jugendbericht (vgl. Deutscher Bundestag 2009) und der UN-Konvention für die Rechte von Menschen<br />

mit Behinderungen (2006) ist diese Trennung politisch nicht mehr haltbar. Mit der UN-Konvention für die<br />

Rechte von Menschen mit Behinderungen und ihrer Ratifizierung in Deutschland ist die soziale Teilhabe aller<br />

Jugendlichen an den Regeleinrichtungen der Bildungsinfrastruktur und den sozialen Diensten politisch bindend.<br />

Dennoch wurden in dieser Diskussion bislang kaum Fragen danach gestellt, wie den jungen Menschen mit Behinderungen<br />

und Beeinträchtigungen Jugend ermöglicht wird und zukünftig gerechter ermöglicht werden könnte<br />

bzw. wie sie selbst ihren Alltag als Jugendliche leben (können).<br />

Für die Qualifizierung und Verselbstständigung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen ist es dabei auch<br />

entscheidend, wie der Übergang in die Arbeitswelt und die berufliche Ausbildung gelingt: „Jugendliche mit<br />

Behinderungen bewältigen diesen Übergang unter erschwerten Bedingungen, denn ihr Exklusionsrisiko erhöht<br />

sich mit jeder Bildungsstufe. Die Folge können biografische Brüche (Klemm 2015, S. 35) sein. Während im<br />

Bereich der frühkindlichen Bildung, Erziehung und Betreuung noch 67 Prozent der Kinder mit sonderpädagogischem<br />

Förderbedarf gemeinsam mit Kindern ohne Behinderungen eine Tageseinrichtung besucht, sinkt ihr Anteil<br />

an der altersspezifischen Schülerschaft in der Grundschule bei 46,9 Prozent bis auf 29,9 Prozent in der Sekundarstufe<br />

I. Diese Tendenz verstärkt sich in der Sekundarstufe II im schulischen Bereich sowie beim Übergang<br />

in die berufliche Bildung weiter (ebd.). Ein zentrales Problem dabei ist, dass, mit einem Anteil von nahezu<br />

80 Prozent der Großteil der jungen Menschen, die eine Förderschule besuchen, diese ohne Hauptschulabschluss<br />

verlässt (Niehaus u. a. 2012, S. 25). Dies beeinträchtigt ihre Chancen auf gesellschaftliche Teilhabe, die „unter<br />

den Bedingungen industrieller Produktionsweisen […] in der Regel […] an eine Erwerbstätigkeit gebunden“<br />

(Buchmann/Bylinski 2013, S. 147) ist, in erheblichem Maße. Zudem halten die Stigmatisierung, exkludierende<br />

Funktion und Wirkung der Zuschreibung „Förderschüler“, wie Hofmann-Lun (2011, S. 146) empirisch belegt,<br />

auch auf der subjektiven Ebene weit über den Förderschulbesuch hinaus an: „Der Besuch der Förderschule wird<br />

von den meisten für die Jugendlichen relevanten Personen und Institutionen negativ bewertet, vor allem von den<br />

gleichaltrigen Freundinnen und Freunden, aber auch von Eltern und anderen Familienmitgliedern, sogar von den<br />

Lehrkräften der Förderschulen und später von Ausbildern und Arbeitgebern. Somit bleibt der „Makel“ des Förderschulbesuchs<br />

haften und beeinträchtigt nicht nur die beruflichen, sondern auch die sozialen Lebenschancen<br />

nachhaltig (ebd.)“ (Rohrmann/Weinbach 2016, S. 49).<br />

Insbesondere im Übergang in den Beruf zeigt sich, dass die Maßnahmen – aus einem anderen Blickwinkel besehen<br />

– zusätzlich verunsichernd und letztlich exkludierend wirken, etwa wenn es um die Werkstätten für behinderte<br />

Menschen (WfbM) geht: So gibt es „eine wachsende Gruppe junger Menschen, die den Besuch einer<br />

Werkstatt für behinderte Menschen als tiefe Verunsicherung ihrer Identität erleben, sie als diskriminierend und<br />

zudem nicht existenzsichernd ablehnen“ (Lindmeier 2015, S. 316). Gleichzeitig wird darauf hingewiesen, dass<br />

die ‚Unterstützungsleistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben‘, wie das Persönliche Budget nach § 17 SGB IX<br />

[…] bislang allerdings noch nicht von vielen Menschen genutzt wird“ (Rohrmann/Weinbach 2017, S. 60).<br />

In diesem Kontext wird aber auch deutlich, dass sich das institutionelle Gefüge des Aufwachsens nicht nur auf<br />

die öffentliche Infrastruktur von Schulen und sozialen Diensten bezieht, sondern auch Betriebe und Öffentlichkeit<br />

gefordert sind, Diskriminierungen und Barrieren abzubauen. So bildet der überwiegende Teil von Unternehmen<br />

weiterhin keine Jugendlichen mit Behinderungen aus. Entsprechend gilt es, den jugendpolitischen Fokus<br />

stärker zu öffnen und über die Schulen und sozialen Dienste hinaus die sozialen Teilhabemöglichkeiten zu<br />

erweitern (vgl. Abb. 7‒4).

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