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Kinderund

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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 365 – Drucksache 18/11050<br />

6 Kinder- und Jugendarbeit im gesellschaftlichen Wandel<br />

6.1 Annäherungen an das Feld der Kinder- und Jugendarbeit<br />

Mit Kinder- und Jugendarbeit 77 werden in diesem Kapitel vielfältige Gelegenheitsstrukturen und Räume des<br />

Aufwachsens bezeichnet, die trotz aller wichtigen internen Unterschiede sich – wenn auch in unterschiedlicher<br />

Ausprägung – durch gemeinsame Charakteristika auszeichnen und sich nach außen vor allem gegenüber Familie<br />

und Schule als die beiden vorgängigen Orte des Aufwachsens für Kinder und Jugendliche deutlich abheben<br />

lassen. Während Familie für fast alle jungen Menschen als die persönliche, unhintergehbare Rahmung der eigenen<br />

Biografie die Grundlage für das Aufwachsen bildet, fungiert die Schule als ein für alle Kinder und Jugendlichen<br />

obligatorisches Setting des Wissenserwerbs, der Organisation von Bildungsprozessen und der Chancenzuweisung.<br />

Dieses hat sich in jüngster Zeit in mehrfacher Hinsicht weiter ausgebreitet und nimmt im Leben<br />

junger Menschen einen immer größeren Raum ein: Die Schule prägt für einen deutlich wachsenden Anteil junger<br />

Menschen das nahezu gesamte zweite Lebensjahrzehnt, und sie nimmt zugleich durch die bundesweite Ausbreitung<br />

der Ganztagsschulangebote und die Umstellung der Gymnasien auf acht Jahre in vielen Bundesländern<br />

einen noch größeren zeitlichen Raum im alltäglichen Leben der Heranwachsenden ein (vgl. Kap. 5).<br />

Im Vergleich zu Familie und Schule stehen jungen Menschen in der Kinder- und Jugendarbeit deutlich andere<br />

Konstellationen und Optionen zur Verfügung, auch wenn sie – wie zu zeigen sein wird – von den angesprochenen<br />

Prozessen der Scholarisierung der Jugendalters und dem Wandel der Bedingungen des Aufwachsens ebenfalls<br />

in vielfältiger Weise betroffen ist. Als freiwilliges, jugendspezifisches und nicht-kommerzielles Angebot<br />

eröffnet die Kinder- und Jugendarbeit jungen Menschen Gelegenheiten, in einem organisierten Rahmen jenseits<br />

der eigenen Familie und der Schule sich mit Gleichaltrigen treffen, sich ohne schulische Vorgaben einbringen,<br />

neue Erfahrungen machen und auch Verantwortung übernehmen zu können. Anders als Familie, die man sich<br />

buchstäblich nicht aussuchen kann, und der Schule, deren Besuch für wenigstens ein Jahrzehnt verpflichtend ist,<br />

gilt für alle Formen der Kinder- und Jugendarbeit, dass die Teilnahme freiwillig ist und man die Mitwirkung<br />

und Inanspruchnahme auch jederzeit wieder beenden kann.<br />

Die Breite der Angebote und ein hoher Grad an Auswahlmöglichkeiten eröffnen vielfältige Optionen in Bezug<br />

auf Inhalte, Organisationsformen und Verbindlichkeiten. Junge Menschen können sich also entscheiden, wo sie<br />

sich wie lange und in welcher Form einbringen wollen. Innerhalb der Angebote der Kinder- und Jugendarbeit<br />

treffen Interessierte vorrangig auf Gleichaltrige, aber nicht in der Form weitgehend altersgruppen- und kompetenzhomogener<br />

Klassen und durchgängig didaktisierter Lernarrangements, sondern in Form mehr oder weniger<br />

offener Gruppen, deren Aktivitäten mitzugestalten sind. Nicht umsonst gehören Stichworte wie Selbstorganisation,<br />

Partizipation und Verantwortungsübernahme unter Gleichaltrigen zu den zentralen Leitbegriffen des Feldes.<br />

Diese Gruppen fungieren häufig – wenn auch mit erkennbaren Unterschieden – als vergleichsweise offene<br />

Gestaltungs-, Frei- und Experimentierräume, die nicht selten durch das Interesse am Erproben von Selbstständigkeit<br />

und Eigensinn geprägt sind. Jederzeit wählbare, risikoarme Ausstiegsoptionen führen dazu, dass alle<br />

Träger dieser Angebote gezwungen sind, sich an lebensweltlichen Bedarfen und Nachfragen zu orientieren.<br />

Sieht man einmal von den auch in diesem Feld anzutreffenden vielfältigen non-formalen Angeboten der Ausund<br />

Weiterbildung ab, lassen sich die Angebote der Kinder- und Jugendarbeit unter dem Aspekt der Qualifizierung<br />

vor allem als Orte der informellen, inzidentellen 78 und in einem gewissen Sinne auch der zufälligen Aneignung<br />

und des Lernens beschreiben. Im Mittelpunkt stehen „selbst gestaltete Bildungsprozesse. Damit sind zugleich<br />

wesentliche strukturelle Unterschiede zur unterrichtsnahen Bildung im Pflichtsystem Schule markiert, so<br />

77<br />

78<br />

In dem vorliegenden Bericht wird der Begriff „Kinder- und Jugendarbeit“ nicht nur als Bezeichnung für die verbandliche Kinder- und<br />

Jugendarbeit, für die er sich seit einiger Zeit durchgesetzt hat, sondern für das gesamte Feld der §§ 11-12 SGB VIII verwendet. Die Sachverständigenkommission<br />

ist sich bewusst, dass damit nicht an allen Stellen das fachliche Selbstverständnis der Praxisfelder präzise getroffen<br />

wird und dass diese Bezeichnung im Einzelfall möglicherweise Irritationen auslöst – weil die z. B. entsprechende Formulierung „mobile<br />

Kinder- und Jugendarbeit“ keineswegs überall selbstverständlich ist. Weil es aber sehr sperrig wäre, jedes Mal zwischen der Kinder- und Jugendarbeit<br />

im Sinne jener Formen der Kinder- und Jugendarbeit, die diese Begrifflichkeit übernommen haben, und anderen Formen der Jugendarbeit<br />

sprachlich zu unterscheiden, wird hier der Oberbegriff „Kinder- und Jugendarbeit“ verwendet und sachbezogen auf die Differenzen<br />

eingegangen. Der Schwerpunkt der Darstellung bleibt dennoch entsprechend des inhaltlichen Fokus dieses Berichtes auf dem Jugendund<br />

jungen Erwachsenenalter.<br />

Mit inzidentellem Lernen, immer wieder auch implizites oder beiläufiges Lernen genannt, werden Formen des Lernens bezeichnet, die sich<br />

ohne eine konkrete Lernabsicht bzw. Lernintention vollziehen (vgl. Dohmen 2001, S. 18ff.; Watkins/Marsyck 1992).

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