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Kinderund

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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 261 – Drucksache 18/11050<br />

Schule und Segregationsdynamiken<br />

Untersuchungen zum Schulbesuch und zur Mobilität im Hinblick auf schulische Bildungsbeteiligung zeigen<br />

zunächst einmal, dass Jugendliche in benachteiligten Wohnquartieren mehrheitlich nicht nur niedrigere Bildungsgänge<br />

besuchen, sondern dass diese Schulen auch zum großen Teil im jeweiligen Wohnquartier selbst<br />

angesiedelt sind. Sowohl die Selektivität des bundesdeutschen Schulsystems als auch das elterliche Schulwahlverhalten<br />

und die Auflösung des Wohnortprinzips nach der Grundschule können im Zusammenhang mit lokalen<br />

Schulangebotsstrukturen als sich gegenseitig verstärkende Mechanismen einer zunehmenden Entmischung der<br />

Schülerschaft betrachtet werden (Radtke/Stošić 2009). Dabei zeigen Untersuchungen u. a. von King und Koller<br />

(2015), dass auch bei ungünstigen bildungsinstitutionellen Voraussetzungen migrierte Eltern häufig hohe Bildungsaspiration<br />

bspw. als Hoffnung auf eine günstigere soziale Platzierung ihrer Kinder zeigen; diese Erwartungen<br />

der Eltern jedoch mit unterschiedlichen Reaktionsmustern der Kinder einhergehen und nur bedingt in<br />

Erfolge umgesetzt werden können. Schulische und sozialräumliche Segregationseffekte sind damit in einen<br />

komplexen Zusammenhang eingebettet.<br />

Die Trendanalyse von Hauf (2006) zeigt für die Städte Mannheim und Heidelberg im Zeitraum von 1980 bis<br />

2002 eine steigende Hauptschülerquote in Stadtteilen mit einem „niedrigen Sozialrang“ im Hinblick auf die<br />

Indikatoren „Ausländeranteil, Sozialhilfeempfängeranteil, Berufsschicht und Arbeitslosenquote“ (ebd., S. 303).<br />

Auch Terpoorten (2014) kommt zu dem Befund, dass Bildungsdisparitäten mit segregierten sozialräumlichen<br />

Stadtgebieten korrelieren und in den von ihm untersuchten Kommunen im Ruhrgebiet die Wohnorte von Hauptschülerinnen<br />

und Hauptschülern die höchsten Segregationswerte aufweisen. Baur und Häußermann weisen<br />

zudem darauf hin, dass sich in Schulen in benachteiligten Quartieren „nicht einfach die soziale Zusammensetzung<br />

der Wohnumgebung bzw. des Einzugsbereichs wieder(spiegelt), sondern es zeigt sich dort oft eine stärkere<br />

Konzentration von sozialen Problemen als im Wohnumfeld“ (Baur/Häußermann 2009, S. 358; vgl. auch Sachverständigenrat<br />

deutscher Stiftungen für Migration und Integration 2016), sodass sich damit zusätzlich ungünstigere<br />

Sozialisationsbedingungen auch im schulischen Umfeld ergeben. Die geringere Anwahl von Schulen<br />

außerhalb des näheren Wohnumfeldes durch Schülerinnen und Schüler unterhalb gymnasialer Bildungsgänge<br />

bedeutet für die meisten Jugendlichen in benachteiligten Wohnquartieren vor allem ein Verwiesensein auf das<br />

nähere Wohnumfeld, auch in Bezug auf den Schulbesuch.<br />

Für einen deutlich kleineren Teil geht mit dem Besuch eines höheren Bildungsganges oft das tägliche Verlassen<br />

des Wohnumfeldes einher, das immer auch mit der Anforderung verbunden ist, eine Balance zwischen unterschiedlichen<br />

Sozialmilieus immer wieder herzustellen. Eine solche Anforderung kann zum einen dazu führen,<br />

dass sich Jugendliche aufgrund der Integration in andere Sozialmilieus über Peerbeziehungen im Gymnasium<br />

und an Freizeitorten außerhalb des eigenen Wohnquartiers deutlich von diesem abgrenzen. Sie verbinden dann<br />

mit dem näheren Wohnumfeld keinen relevanten Bewegungsraum, sondern in erster Linie einen „Fluchtraum“,<br />

den man sowohl täglich als auch im Hinblick auf die eigene Zukunft so schnell wie möglich verlassen möchte<br />

(Krüger u. a. 2012). Gleichzeitig finden sich aber auch Handlungsmuster von Jugendlichen, die milieu-, schulund<br />

quartierbezogen in unterschiedliche Peerbeziehungen eingebettet sind und durch diese parallelen Zugehörigkeiten<br />

aktiv eine Balance zwischen ihren sozialen Bindungen und der Wahrnehmung, in einem problematisierten<br />

Quartier zu leben, herstellen (vgl. Ecarius/Franke 2011). Dies findet sich vor allem bei Jugendlichen mit<br />

höheren schulischen Bildungsorientierungen, die in differente Freundesgruppen in Schule, institutionalisierter<br />

und nicht-institutionalisierter Freizeit integriert sind. Eine solche Differenzierung der peerbezogenen Orientierungen<br />

an unterschiedlichen Orten verweist darauf, dass Verinselung nicht lediglich Ausdruck einer modernisierten<br />

Raumerschließung sein muss, sondern auch eine biografisch eingelagerte Strategie sein kann, die „Sicherheit<br />

gibt und einen direkten Bruch mit dem segregierten Milieu verhindert“ (ebd., S. 129).<br />

Zwischen Bindung an das Quartier und Abgrenzung<br />

Nicht nur für Jugendliche mit höheren Bildungsaspirationen in benachteiligten Wohngegenden verweist Keller<br />

(2007) auf die Ambivalenz in der Bezugnahme auf das jeweilige Quartier, die sich im Spannungsfeld zwischen<br />

Identifikation und Abgrenzung bewegt. Jugendliche nehmen dabei deutlich eine Diskrepanz zwischen ihrer<br />

sozialen Bindung an das Quartier über Familie oder Freunde auf der einen und der Stigmatisierung des Quartiers<br />

auf der anderen Seite wahr. Ähnlich wie bereits, bezogen auf die Peripherisierungsprozesse im ländlichen<br />

Raum, diskutiert, übernehmen sie zum Teil diese Stigmatisierungsdiskurse oder nutzen diese, um sich von quartiersbezogenen<br />

Problematiken zu distanzieren. Wellgraf (2012) weist dabei in seiner Untersuchung Berliner<br />

Hauptschülerinnen und Hauptschüler auf die Wirkmacht medialer Inszenierungen hin. Auch wenn die Jugendli-

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