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Kinderund

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Drucksache 18/11050 – 94 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode<br />

werden. Junge Menschen werden über diesen Zugang als für ihre gesellschaftliche Integration selbst verantwortlich<br />

konstruiert und angesprochen. Die Zuschreibung von Verantwortung für soziale Teilhabe an Jugendliche<br />

stellt ein zentrales Merkmal der generationalen Lage Jugendlicher in der Gegenwartsgesellschaft dar. Ihr liegt<br />

die Annahme einer meritokratisch strukturierten Wissensgesellschaft zugrunde, in der eine leistungsgerechte<br />

Zuweisung der sozialen Chancen und Karrierewege möglich ist (z. B. Solga 2005).<br />

Dagegen können deutliche sozialstrukturelle Unterschiede in den Lebenslagen und damit auch in den Teilhabechancen<br />

beschrieben werden. Zugänge in unterschiedliche institutionelle Felder – wie Bildung, Politik oder der<br />

Arbeitsmarkt – sind nicht für alle Jugendlichen gleichermaßen offen. Untersuchungen weisen etwa seit Langem<br />

auf systematisch geringere Beteiligungsquoten von Jugendlichen aus Familien, die in Armut leben, aus Elternhäusern<br />

mit geringen formalen Qualifikationen sowie aus ethnischen Minderheiten hin; sie zeigen Benachteiligungen<br />

von Jugendlichen mit Behinderungen oder in strukturschwachen Regionen auf (vgl. Kap. 2 und 3).<br />

Auch geschlechtsspezifische Benachteiligungen spielen nach wie vor eine Rolle, z. B. im Zugang zu Qualifikationen<br />

und beruflichen Positionen (vgl. hierzu ausführlicher Kap. 2).<br />

Diese strukturellen Benachteiligungen werden innerhalb von Institutionen ebenso wie in ihrer wissenschaftlichen<br />

Beobachtung und Beschreibung vorwiegend als individuelle Risiken diskutiert. So werden Bildungsaspirationen,<br />

familiale Unterstützungsleistungen und kulturelle Ressourcen von Jugendlichen auf niedrigqualifizierenden<br />

Schulen für deren Bildungswege verantwortlich gemacht. Mangelnde Bereitschaft zur Mobilität oder gar<br />

individuelle physische bzw. psychische Voraussetzungen werden als Ursachen von Ausbildungs- oder Arbeitslosigkeit<br />

diskutiert.<br />

Konkret verbinden sich bspw. mit dem in der Bildungsforschung und -berichterstattung verwendeten Label der<br />

„Bildungsferne“ vielfältige Zuschreibungen, z. B. geringer Bildungsaspirationen und Nähe zu Bildungseinrichtungen,<br />

mangelnder schulbezogener Unterstützung und Anregung in der Herkunftsfamilie sowie geringen kulturellen<br />

Kapitals, die weit über die zur Bestimmung des Merkmals verwendeten Indikatoren des aktuellen Schulbesuchs<br />

bzw. der erreichten Qualifikationen hinausgehen (vgl. Wiezorek 2009). Die Konstruktion impliziert<br />

vielmehr im Zuge der Standardisierung höherer Qualifikationen in der Gesellschaft eine Defizitzuschreibung an<br />

die so beschriebenen Jugendlichen und ihre Familien. Vor dem Hintergrund ihrer Definition als Risikolage des<br />

Aufwachsens wird über die Kategorie der „Bildungsferne“ ebenso wie über die der „familialen Einkommensarmut“<br />

oder der „elterlichen Arbeitslosigkeit“ ein „Gefährdungspotenzial in Bezug auf die gesellschaftliche Integration“<br />

(ebd., S. 181) für Jugendliche angenommen und empirisch bestätigt (z. B. Autorengruppe Bildungsberichterstattung<br />

2014, S. 23ff.). Kategorien zur Beschreibung der sozialstrukturellen Lage sind einerseits wichtige<br />

Indikatoren für die Feststellung von Teilhaberisiken und Ungleichheiten. Andererseits werden sie in öffentlichen<br />

Diskursen wie in pädagogischen Zusammenhängen zu Deutungen, über die Prozesse der Abwertung und<br />

Exklusion begründet werden (vgl. hierzu etwa die empirischen Untersuchungen von Wiezorek/Pardo-Puhlmann<br />

2013; Fölker/Hertel 2015).<br />

Ganz ähnliche Schwierigkeiten bestehen im Hinblick auf die Verwendung der Kennzeichnungen „ausländisch“,<br />

„mit Migrationshintergrund“ etc. Als begriffliche Fassungen ethnischer, nationaler oder kultureller Differenzierung<br />

von Bevölkerungen sind sie ebenso geeignet, auf Zugangsbarrieren oder Teilhabebeschränkungen aufmerksam<br />

zu machen wie zur Konstruktion von „Andersheit“ und „Fremdheit“ beizutragen (z. B. Mannitz/Schneider<br />

2014). Dabei wurden gerade in jüngeren Diskursen über die Kategorie des „Migrationshintergrunds“<br />

zum größten Teil Jugendliche und junge Erwachsene erfasst, die selbst gar nicht über Migrationserfahrung<br />

verfügen, sondern als Nachkommen von Einwanderinnen und Einwanderern einerseits in der Bundesrepublik<br />

geboren und aufgewachsen und andererseits deutsche Staatsbürgerinnen und Staatsbürger sind (zu demografischen<br />

Daten vgl. Abs. 2.1 in diesem Bericht). Ihre Ansprache als „ethno-natio-kulturell“ ist die Grundlage<br />

einer fortgesetzten öffentlichen und wissenschaftlichen Konstruktion bestimmter Gruppen als „Migrationsandere“<br />

(Mecheril 2002). Insbesondere in der Beschreibung „Jugendlicher mit Migrationshintergrund“ dominieren<br />

dabei Thematisierungen, die mit der Feststellung von Förderbedarfen, Benachteiligung und „Integrationsdefiziten“<br />

einhergehen (z. B. Geisen 2007 für die wissenschaftliche Thematisierung jugendlicher Migrantinnen<br />

und Migranten; Scarvaglieri/Zech 2013 für den öffentlich-medialen Diskurs über diese). Die Jugendlichen<br />

werden so weiterhin als sozial entwicklungsbedürftig konstruiert, was wiederum institutionelle Ausschlüsse<br />

begründet. Mit der anhaltenden Defizitkonstruktion erfolgt damit eine Besonderung von Jugendlichen mit eigener<br />

oder familialer Migrationsgeschichte in der Gegenüberstellung von mehrheitsgesellschaftlicher Normalität<br />

und „anderen“ Minderheiten. Migrantinnen und Migranten und ihre Nachkommen in der Bundesrepublik<br />

Deutschland werden so zugleich einer Homogenisierung unterworfen, die auch durch bislang vorgenommene<br />

Differenzierungen insbesondere nach Herkunftsland (der Vorfahren) nicht hinreichend aufgebrochen wird. Dif-

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