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Kinderund

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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 445 – Drucksache 18/11050<br />

7.4 Soziale Dienste und die Lebenslage Flucht<br />

Soziale Dienste für Jugendliche und junge Erwachsene sind im Jahr 2015 durch die großen Zahlen und die Heterogenität<br />

in Deutschland ankommender geflüchteter junger Menschen sowie die damit notwendig gewordene<br />

Begleitung und Unterstützung junger Geflüchteter zum Teil elementar herausgefordert worden. 118 Auch wenn,<br />

wie in Abs. 2.1.2 dieses Berichts gezeigt worden ist, geflüchtete Jugendliche und junge Erwachsene für<br />

Deutschland an sich kein neues Phänomen darstellen, so traf diese Form der Zuwanderung im letzten Jahr in<br />

Anbetracht des quantitativen Ausmaßes dennoch das institutionelle Gefüge des Aufwachsens vielfach unvorbereitet.<br />

Soziale Dienste als Erstanlaufstellen und gesetzlich zuständige Dienste standen rasch im Mittelpunkt der<br />

damit verbundenen Diskussionen, da sie auch die Integration in das Bildungswesen, in die berufliche Ausbildung<br />

und in den Arbeitsmarkt mitorganisieren sollten. Gleichwohl handelt es sich beim Thema Flucht um eine<br />

sehr viel generellere Herausforderung des institutionellen Gefüges des Aufwachsens.<br />

Die genaue Zahl der aktuell in der Bundesrepublik Deutschland lebenden jungen Geflüchteten im Alter von<br />

zwölf bis unter 25 Jahren ist noch nicht präzise feststellbar (vgl. auch Kopp u. a. 2016; Autorengruppe Bildungsberichterstattung<br />

2016, S. 192ff.). Man kann aber davon ausgehen, dass sich inzwischen mehr als 340.000<br />

geflüchtete Jugendliche und junge Erwachsene hierzulande aufhalten (vgl. Abs. 2.1.2).<br />

Diese Größenordnungen lassen erahnen, dass damit Herausforderungen in Bezug auf Unterbringung, Versorgung,<br />

Betreuung, Förderung, Erfassung, Verwaltung sowie in Bezug auf das asylrechtliche Verfahren einhergehen,<br />

was an vielen Stellen unmittelbare Auswirkungen auf die Lebenslagen der Betroffenen hatte und hat. Allein<br />

die Zahl und die Vielfalt der innerhalb kurzer Zeit in Deutschland eingereisten geflüchteten Jugendlichen<br />

und jungen Erwachsenen überforderten die Strukturen, Institutionen und Verfahren mit der Folge, dass an vielen<br />

Stellen improvisiert, Verfahren ausgesetzt und Ersatzlösungen gefunden werden mussten und ein „kreativer<br />

Pragmatismus“ (Smessaert/Struck 2016) gefordert war.<br />

Allerdings weiß man bis heute wenig Verlässliches, was dies im Einzelnen in Bezug auf die Lebenslagen der<br />

jungen Geflüchteten hierzulande bedeutet. Belastbare gebündelte Erfahrungswerte vonseiten der Fachkräfte und<br />

Verantwortlichen liegen bislang nur sehr vereinzelt vor. 119 Die Ergebnisse der wenigen Studien, die sich vor<br />

Sommer 2015 mit den Lebenslagen der jungen Geflüchteten befasst haben (vgl. zu den generellen Defiziten im<br />

Bereich der Geflüchtetenforschung Johansson 2016), und die Erfahrungen der Fachkräfte sind – je nach thematischem<br />

Zuschnitt – nur teilweise übertragbar (vgl. Stauf 2012; Detemple 2013; Noske 2015; Brinks u. a. 2015;<br />

Arbeitsgruppe Fachtagungen Jugendhilfe im Difu 2015). Neuere Studien, die bereits auf die Situation seit<br />

Sommer 2015 reagieren, können bislang bestenfalls erste Erfahrungen und vorläufige Ergebnisse vorlegen. 120<br />

So kann festgehalten werden, dass es derzeit vor allem an belastbaren empirischen Befunden zu institutionellen<br />

Angeboten für sowie zu den Lebenslagen, individuellen Erfahrungen und Perspektiven von jungen Geflüchteten<br />

118<br />

119<br />

120<br />

Während in der öffentlichen und häufig auch in der Fachdiskussion von „Flüchtlingen“ die Rede ist, wird dieser Begriff hier bewusst vermieden.<br />

Zum einen suggeriert der Begriff, dass die Betroffenen noch immer auf der Flucht sind. Hinzu kommt, dass der Begriff „Flüchtling“<br />

Gefahr läuft, die Biografie, die Lebenslagen, die Perspektiven und alle anderen individuellen Momente auf diesen einen Aspekt, der im<br />

Deutschen zudem den Status als aktuell passiv Erleidender anklingen lässt, zu reduzieren. Die verschiedentlich vorgeschlagene Begrifflichkeit<br />

„Kinder und Jugendliche mit Fluchterfahrung“ (Maywald/Wiemert 2016) ist zwar in der Sache nachvollziehbar, aber reichlich sperrig.<br />

Vor diesem Hintergrund wird im Folgenden vorrangig von „Geflüchteten“ gesprochen – unabhängig davon, ob damit im Einzelfall der formal-rechtliche<br />

Status als Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention und der entsprechenden bundesdeutschen Gesetze verbunden<br />

wird. Dass diese feinen begrifflichen Differenzen nicht nur der präziseren Beschreibung dienen, sondern auch als Beiträge zur Klärung<br />

in der Sache zu verstehen sind, wird verständlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass auch die wissenschaftliche Debatte noch erheblichen<br />

Verständigungsbedarf sieht: „Bislang steht eine sozialwissenschaftliche Klärung allerdings des Flüchtlingsbegriffs aus“ (Scherr 2015);<br />

http://fluechtlingsforschung.net/wer-ist-ein-fluchtling/ [19.10.2016].<br />

Vgl. z. B. die Beiträge in Hagen 2016, S. 66ff., in Heft 01/2016 der Zeitschrift Forum Jugendhilfe, in Heft 3/2016 der Zeitschrift <strong>Kinderund</strong><br />

Jugendschutz in Wissenschaft und Praxis, in Heft 1/2016 der Zeitschrift Sonderpädagogische Forschung heute, in Heft 3/4 der Zeitschrift<br />

Sozialmagazin sowie im ersten Sonderband der gleichen Zeitschrift (Fischer/Graßhoff 2016).<br />

Vgl. hierzu z. B. auch die Studie des Deutschen Jugendinstituts (DJI) „Erfahrungen und Perspektiven minderjähriger Flüchtlinge“ (Holthusen<br />

2015), das Projekt „Von der Aufnahme zu gesellschaftlicher Teilhabe: die Perspektive der Flüchtlinge auf ihre Lebenslage in Deutschland“,<br />

das vonseiten des Sachverständigenrates für Integration und Migration mit Unterstützung der Robert-Bosch-Stiftung durchgeführt<br />

wird (vgl. http://www.svr-migration.de/forschungsbereich/forschungsprojekte/) sowie die „Studie zur Lebenssituation von Geflüchteten in<br />

Deutschland“, die vonseiten des Institutes für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) am Deutschen<br />

Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) und des Forschungszentrums Migration, Integration und Asyl des Bundesamtes für<br />

Migration und Flüchtlinge (BAMF-FZ) realisiert wird (vgl. http://www.diw.de/de/diw_01.c.523741.de/themen_nachrichten/studie_<br />

zur_lebenssituation_von_gefluechteten_in_deutschland.html). Die vonseiten World Vision Deutschland und der Hoffnungsträger Stiftung finanzierte<br />

qualitative Befragung von 10- bis 13-jährigen geflüchteten Kindern war die erste Studie zu diesem Thema (vgl. Gerats/Andresen<br />

2016; World Vision Deutschland/Hoffnungsträger Stiftung 2016).

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