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Kinderund

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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 209 – Drucksache 18/11050<br />

3.3.2 Jugendliche in informellen Gruppen/Cliquen<br />

Informelle Gruppen oder Cliquen stellen für Jugendliche einen wichtigen Möglichkeitsraum dar, eigene, von der<br />

Erwachsenenwelt relativ unabhängige Erfahrungen zu machen. Familie und Peergroup erweisen sich damit mit<br />

zunehmendem Alter als „zwei zentrale Sozialisationskontexte zwischen Rivalität und Komplementarität“ (Brake<br />

2010) und haben einen hohen Einfluss auf die Identitätsarbeit im Jugendalter. Als mehr oder weniger freiwillig<br />

gewählte, symmetrische, selbst initiierte und aufkündbare Vergemeinschaftungsform (vgl. Youniss 1994)<br />

bieten informelle Gruppen einen Ort, in dem das eigenständige Aushandeln von Gruppennormen und -<br />

konflikten möglich und gleichzeitig nötig wird, in dem jugendliche Lebenslagen, Anforderungen und Erwartungen<br />

gemeinsam bearbeitet werden können, in dem sich eigene kulturelle Praktiken und Werte entwickeln können<br />

und in dem die eigenen Interessen und Lebensthemen stärker im Zentrum stehen, aber auch mit anderen<br />

austariert werden müssen. Informelle Gruppen bilden damit Räume für Jugendliche, sich als Angehörige einer<br />

eigenen Jugendgeneration wahrzunehmen, sich zumindest tendenziell von den kulturellen Vorstellungen der<br />

Eltern zu lösen und einen eigenen kulturellen Horizont zu entwickeln (vgl. Reinders 2015). Gleichzeitig entstehen<br />

Norm-, Wert- und Verhaltensvorstellungen in Peergroups immer auch im Horizont familialer Herkunftskontexte,<br />

sozialer Lagerungen und biografischer Vorerfahrungen, die nicht nur Struktur und Ausgestaltung informeller<br />

Gruppen mit beeinflussen, sondern auch die Basis bilden, auf der sich eigene Vorstellungen und Entwürfe<br />

in sozialen Aushandlungsprozessen in der Gruppe allererst entwickeln können. Sie stellen gemeinsam mit den<br />

sozial selektiven Möglichkeitsräumen für Peerkontakte (z. B. Schule, Vereine, Nachbarschaft) Ermöglichungswie<br />

auch Begrenzungsfaktoren sowohl für den Zugang zu bestimmten Peergroups als auch für sich darin entfaltende<br />

soziale und kulturelle Praktiken dar, sodass auch in vermeintlich freiwillig gewählten informellen Cliquen<br />

die Wahrscheinlichkeit sehr hoch ist, dass sich deren Mitglieder hinsichtlich sozialer Herkunft, Einstellungen<br />

und kulturellen Praktiken stark ähneln (vgl. auch Steinhoff/Grundmann 2015).<br />

Ein Großteil der Jugendlichen ist in solche informellen Cliquen eingebunden, und dies häufig parallel zur Mitgliedschaft<br />

in organisierten außerschulischen Gruppen oder der Einbindung in dyadische Freundschaftsbeziehungen.<br />

Rund 90 Prozent der von Harring (2011) befragten Jugendlichen gibt an, die Freizeit „oft“ oder „sehr<br />

oft“ im Kontext von Gleichaltrigenbeziehungen zu verbringen. Dabei zeigt sich ein kontinuierlicher Anstieg der<br />

Einbindungsquote zwischen dem zwölften und dem 21. Lebensjahr, wenngleich das tägliche Treffen von Freunden<br />

vor allem mit dem Übergang in das Ausbildungssystem und dabei insbesondere bei den Jugendlichen aus<br />

höheren sozialen Milieus abnimmt (Geier 2015).<br />

Zudem wird deutlich, dass Jugendliche mit nicht-deutschem Pass seltener in solche Netzwerke eingebunden<br />

sind als Einheimische und deutsche Jugendliche mit Migrationshintergrund (61 % zu 71 % bzw. 74 %) (vgl.<br />

Leven u. a. 2010, S. 82) und bei der Wahl von Freundschaftsbeziehungen in Bezug auf die natio-ethnokulturelle<br />

wie auch soziale Zugehörigkeit und Herkunft nach wie vor selektiv verfahren. Nur ein Drittel aller<br />

befragten sowohl deutschen als auch ausländischen Heranwachsenden gibt an, einen Freund bzw. eine Freundin<br />

einer anderen Nationalität zu haben. Die überwiegende Mehrheit von 82,3 Prozent aller freundschaftlichen Verbindungen<br />

von Jungen und Mädchen mit sogenanntem Migrationshintergrund findet ausschließlich innerhalb<br />

des Migrationskontextes statt (Harring 2011). Zentrale Gründe finden sich hierfür in der jeweiligen Schulform<br />

und dem sozialräumlichen Wohnkontext: „In der Tat führen die Lebensverhältnisse in diesen benachteiligten<br />

Wohnvierteln dazu, dass Freundschaften, Partnerschaften und Eheschließungen häufiger innerhalb der ethnischen<br />

Community bleiben“ (Toprak/El-Mafaalani 2011, S. 33).<br />

Daneben findet Hirschhauer (2012) in Gruppendiskussionen mit 14- bis 16-jährigen Jugendlichen mit türkischem<br />

Migrationshintergrund mögliche Gründe. So werden hier die ethnische Selbstverortung und die gelebte<br />

Zugehörigkeit zu bspw. einer türkischsprachigen Gruppe auch als Reaktion auf Abgrenzung durch Andere und<br />

erfahrene ethnische Stereotype (Aggressivität, Kriminalität etc.) thematisiert. „Wenn die Chance, Anerkennung<br />

außerhalb des ethnischen Kollektivs zu erfahren, ungewiss ist bzw. als unwahrscheinlich eingeschätzt wird,<br />

werden die Bindungen zur ethnischen Community forciert. Diese Erfolglosigkeit und das Gefühl, ausgeschlossen<br />

zu werden, begünstigen Selbstethnisierungs- und Selbstausschlusstendenzen“ (Toprak/El-Mafaalani 2011,<br />

S. 11). Selbstpositionierungen im sozialen Raum besitzen somit nicht zwingend allein identifikatorischen Charakter,<br />

sondern stellen auch ein strategisches und widerständiges Moment der Verortung als Reaktion auf ethnisierte<br />

Zuschreibungen oder auf Rassismus- und Ausgrenzungserfahrungen dar (vgl. Riegel/Geisen 2010b).<br />

Intraethnische Freundschaften bieten damit immer auch einen Gesellungsraum, in dem über den gemeinsamen<br />

sozialen und kulturellen Hintergrund eine Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Anforderungen und

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