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Kinderund

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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 89 – Drucksache 18/11050<br />

nur wenig Freizeitangebote hatte, ist es auch nicht verwunderlich, dass die Mitglieder dieser Jugendgeneration,<br />

[…] in biografischen Gesprächen über kein entfaltetes Konzept von Jugend verfügen. Für relativ viele Angehörige<br />

dieser Generation schrumpft Jugend in den biografischen Erinnerungen auf die Bedeutung eines Anhängsels<br />

zusammen – als Ende der Kindheit und als Eingangsphase des Erwachsenseins“ (Grunert/Krüger 2000,<br />

S. 197ff.). Entsprechend war ebenfalls in den 1950er Jahren und auch später noch der Prototyp des Jugendlichen<br />

der schulentlassene junge Mensch, der seinen Weg in die Arbeitswelt nahm. So stützte sich auch Schelsky<br />

(1975) in seiner bekannten Diagnose von der „Skeptischen Generation“ vor allem auf die berufstätige Jugend,<br />

„weil uns der junge Arbeiter und Angestellte, und nicht der Oberschüler oder Hochschüler, die strukturierende<br />

und verhaltensprägende Figur dieser Jugendgeneration darzustellen scheint“ (Schelsky 1975, S. 7). Damals war<br />

für die ganz überwiegende Mehrzahl der Jugendlichen die Schule eine biografische Episode, die bereits hinter<br />

ihnen lag.<br />

Die (Berufs-)Bildungsreformen und die Sozialpolitik der vergangenen 50 Jahre haben diese Strukturierung<br />

grundsätzlich verändert. Jugendzeit ist heute für die große Mehrheit der Heranwachsenden – für junge Frauen<br />

und Männer – zu einem beträchtlichen Teil (Hoch-)Schul- und berufliche Ausbildungszeit. Dadurch wird nicht<br />

nur die Qualifizierung junger Menschen institutionell neu verankert, sondern das Jugendalter wird neu geordnet.<br />

Insgesamt ist es aber nicht nur die gewachsene Bildungsbeteiligung, die das Jugendalter heute bestimmen, sondern<br />

auch die diskursiven Erwartungen an die Selbstoptimierung junger Menschen, wie sie in den ganz unterschiedlichen<br />

Bildern von Jugend zum Ausdruck kommt (vgl. Abs. 1.1).<br />

Entsprechend können die gegenwärtigen Beschreibungen der „Entstrukturierung“, „Entstandardisierung“ und<br />

„Biografisierung“ von Jugend vor allem als Zeitdiagnosen gelesen werden, die ausdrücken, dass im Wandel zur<br />

globalisierten Wissensgesellschaft Jugend in sozialen Entgrenzungen verwirklicht wird. Ob in diesem Zusammenhang<br />

der Pfad einer protektionistischen Jugendpolitik, wie er im 20. Jahrhundert angelegt wurde, aufgebrochen<br />

wird, erscheint offen. Viele Anzeichen – wie z. B. die verlängerten Qualifizierungszeiten und die erhöhte<br />

Bildungsbeteiligung, aber auch die Ausdifferenzierung und Normalisierung jugendkultureller Ausdrucksformen<br />

– deuten darauf hin, dass viele junge Menschen Jugend gleichzeitig als eigenständige Lebensphase und als offene<br />

Form des Übergangs erfahren. Somit sind die Zeitdiagnosen vor allem als Aufforderung zur Ermöglichung<br />

zu lesen. Sie deuten darauf hin, dass die Jugend als eigenständige Lebensphase historisch gesehen erst in der<br />

Verwirklichung begriffen ist und eine politische Herausforderung für die Zukunft darstellt. Dass die Durchsetzung<br />

von Jugend für alle Jugendlichen in erster Linie sozial- und ordnungspolitischen Regulationen unterliegt,<br />

machen die kursorischen historischen Ausführungen deutlich.<br />

1.2.3 Jugend als Jugendmoratorium<br />

Zur historischen Entwicklung von Jugend als Lebensphase gehört auch, dass diese seit den späten 1960er Jahren<br />

zunehmend als Moratorium in Form einer zeitlich begrenzten Freisetzung und Entpflichtung Heranwachsender<br />

von gesellschaftlichen Aufgaben und Teilhabeformen gefasst wird. Auch wenn Zinnecker (2000) resümiert,<br />

dass es dabei auch im 20. Jahrhundert „weniger um die empirischen Lebenslagen und Lebensverläufe von Kindern<br />

und Jugendlichen und noch viel seltener um konkrete Kinder und Jugendliche“ (Zinnecker 2000, S. 37)<br />

ging, war diese Figur doch in der Jugendforschung und in den „vielfachen wissenschaftlichen und medialen<br />

Diskursen [...] um Kindheit und Jugend [...] im 20. Jahrhundert“ äußerst präsent. Sie bildete einen Kern wissenschaftlicher<br />

Konzeptionen und einer Theoretisierung des Aufwachsens und der Sozialisation sowie den normativen<br />

Bezugspunkt politischer Regulierung und pädagogischer Gestaltung von Kindheit und Jugend. Funktional<br />

verankert ist das Moratorium der Jugend in der gesellschaftlichen Notwendigkeit, generationalen Wandel zu<br />

gestalten und zu ermöglichen (Böhnisch 1982; Zinnecker 2003). Jugend wird vor diesem Hintergrund in Form<br />

von Zumutungen, Bewahrungen und Entpflichtungen diskursiv konstruiert und politisch gerahmt (vgl. Andresen<br />

2013). Inhaltlich wird das pädagogische Moratorium von Kindheit und Jugend vor allem über vier strukturelle<br />

Merkmale bestimmt (vgl. etwa Zinnecker 2000):<br />

– Erstens werden Jugendliche in modernen Gesellschaften von reproduktiven Aufgaben befreit, z. B. über<br />

die gesetzliche Festlegung des Heiratsalters und der Regelung von Arbeitsverboten sowie über vielfältige<br />

Schutzbestimmungen in den Bereichen Arbeit, Sexualität und wirtschaftliches Handeln. Jugend sollte, so<br />

der idealtypische Modus in der industriellen Moderne, „aus dem Bereich der Produktion ausgegliedert –<br />

„separiert“ –, um in dieser Separation auf die Integration in eben diese Gesellschaft vorbereitet werden zu<br />

können. Jugendliche sollen Identitäten und spezifische Arbeitsvermögen gleichermaßen hervorbringen und

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