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Kinderund

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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 441 – Drucksache 18/11050<br />

da sie mitunter – vor allem Jugendliche mit einer geistigen Behinderung (vgl. Rohrmann/Weinbach 2017) – in<br />

einen Status der dauerhaften Schutzbedürftigkeit oder Kindheit gedrängt werden. Dennoch wird von ihnen – wie<br />

von allen jungen Menschen – erwartet, dass sie eine berufliche und soziale Handlungsfähigkeit ausbilden, individuell<br />

Verantwortung übernehmen sowie eine Integritätsbalance zwischen subjektiver Freiheit und sozialer<br />

Zugehörigkeit finden (vgl. Kap. 1). Nicht erst seit der UN-Konvention für Rechte von Menschen mit Behinderungen<br />

und Beeinträchtigungen haben sie ein Recht darauf, dass ihnen Jugend – wie allen Jugendlichen – ermöglicht<br />

wird und die Benachteiligungen sowie Barrieren, die sie behindern, ausgeglichen und sozialpolitisch<br />

bearbeitet werden.<br />

Doch nur selten werden junge Menschen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen als Jugendliche und junge<br />

Erwachsene betrachtet; zu stark erscheint die Kategorisierung als behindert oder beeinträchtigt, die vor das Jugendalter<br />

rückt und meist zum „Masterstatus“ wird (vgl. Rohrmann/Weinbach 2017, S. 64): „Den Antrag auf<br />

Feststellung einer Behinderung stellen Jugendliche oder ihre Personensorgeberechtigten, da sie sich davon eine<br />

Verbesserung der Teilhabechancen versprechen. In dem Anerkennungsverfahren wird jedoch (…) die Abweichung<br />

von einem für das Lebensalter typischen Zustand festgestellt und nicht die Beeinträchtigung der Teilhabe.<br />

Da die Feststellung zumeist auf der Grundlage von bereits existierenden medizinischen Gutachten erfolgt, ist<br />

weniger das Verfahren problematisch, als das Ergebnis. Das Resultat schließt einen bis dahin offenen Prozess<br />

der Deutung und des Umgangs mit einer Beeinträchtigung durch die amtliche Zuschreibung eines Status ab. Die<br />

Zuschreibung einer Behinderung im sozialrechtlichen Anerkennungsverfahren kann daher ganz erhebliche<br />

Auswirkungen auf Teilhabechancen in unterschiedlichen Lebensbereichen haben“ (ebd.). So führt der Status<br />

„behindert“ in vielen sozialen Zusammenhängen des Jugendalters nicht nur in den Institutionen zu einer Sonderbehandlung,<br />

die wiederum zu sozialem Ausschluss oder zu Selbststigmatisierungen führen kann: „Der negativen<br />

Fremdwahrnehmung folgt eine negative Selbstwahrnehmung“ (Pfahl 2006, S. 143).<br />

In der Debatte um Inklusion und Diversität wird gegenwärtig intensiv diskutiert, wie aus Differenzen soziale<br />

Benachteiligungen entstehen. Behinderung, so die allgemeine Kritik, wird dem Jugendlichen in einem komplexen<br />

sozialen Prozess zugeschrieben. Es wird in der Sozial- und Bildungspolitik als Fördervoraussetzung angesehen,<br />

um Behinderungen und Beeinträchtigungen an dem einzelnen Jugendlichen „festzustellen“, aber auch um<br />

Schutz, Assistenz und Förderung legitimieren zu können. Mit diesem „Etikettierung-Ressourcen-Dilemma“<br />

(Lindmeier 2005, S. 136) lässt sich dennoch kaum begründen, dass Benachteiligungen und Barrieren in individuelle<br />

Eigenschaften Jugendlicher und junger Erwachsener übersetzt werden müssen. Der individualisierende<br />

Begriff von Behinderung und Beeinträchtigung läuft entsprechend darauf hinaus, dass der Wohlfahrtsstaat<br />

„Prämien auf Defizite“ verteilt (Bude 2008).<br />

So wird inzwischen verstärkt gefordert, dass die Zuschreibungen stärker dahin gehend überprüft werden, ob sie<br />

nachhaltig auch aus der Perspektive der Adressatinnen und Adressaten der jeweiligen Dienstleistung und der<br />

sozialstaatlichen Zuwendung als Verbesserung des Teilhabestatus erfahren und erlebt werden können. „Individuelle<br />

Beeinträchtigungen haben einen wesentlichen Einfluss auf die Teilhabechancen von Jugendlichen. Nach<br />

dem Verständnis der UN-Behindertenrechtskonvention kann sich aus einer Beeinträchtigung in Wechselwirkung<br />

mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren eine Behinderung der Teilhabe entwickeln. Leistungen<br />

zur Unterstützung und Förderung sollen, ausgehend von diesem Verständnis, dazu beitragen, dass Jugendliche<br />

mit Behinderungen in allen Lebensfeldern selbstverständlich einbezogen sind und gleichberechtigt insbesondere<br />

an Bildung sowie am außerschulischen Alltag teilhaben. Unterstützungsleistungen können jedoch auch als Barriere<br />

für eine gleichberechtigte Teilhabe wirken. Der Zugang zu ihnen erfolgt im Rahmen von Verwaltungsverfahren,<br />

in denen geprüft wird, ob Jugendliche die Anspruchsvoraussetzungen erfüllen. Es handelt sich hierbei<br />

um Zuschreibungsprozesse, die der institutionellen Kategorisierung und Zuordnung zum Kreis der Anspruchsberechtigten<br />

dienen. Die Zuschreibung einer Behinderung legitimiert somit auf der einen Seite einen Anspruch<br />

auf Hilfe, auf der anderen Seite bietet sie – allen Begriffsveränderungen zum Trotz – Anknüpfungspunkte für<br />

Stigmatisierungen, die zu Ausgrenzungen führen können. Die UN-Behindertenrechtskonvention misst, ebenso<br />

wie die UN-Kinderrechtskonvention, der gleichen Behandlung von Kindern mit und ohne Behinderungen eine<br />

zentrale Bedeutung zu und fordert die Vertragsstaaten auf, die dazu notwendigen behinderungsgerechten und<br />

altersgemäßen Hilfen (disability and age-appropriate assistance, Art. 7 UN-Behindertenrechtskonvention) zur<br />

Verfügung zu stellen“ (Rohrmann/Weinbach 2017, S. 9).<br />

Im Jugendalter wird das „Etikettierung-Ressourcen-Dilemma“ besonders deutlich, da mit der Verselbstständigung<br />

und dem Heraustreten aus dem familialen Kontext die Assistenzen und Unterstützungen, z. B. beim Übergang<br />

in die Arbeitswelt, an den Behindertenstatus des Jugendlichen gebunden sind. Die jungen Menschen sind<br />

in ihrer Selbstpositionierung herausgefordert, mit dem Status der Behinderung zwischen einer Identitätsstrate-

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