02.02.2017 Aufrufe

Kinderund

1811050

1811050

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 211 – Drucksache 18/11050<br />

Problembearbeitung bietet und teilweise auch als Familienersatz dient (auch Bütow 2006). Solche „geborgenheitsorientierten<br />

Gruppen“ stellen ein positives emotionales Klima bereit, das auch zur Bewältigung von problematischen<br />

biografischen Erfahrungen in Familie oder Schule beitragen kann. Gemeinsame Problembearbeitung<br />

spielt auch für Jugendliche eine Rolle, die sonst kaum in festere Gleichaltrigenbeziehungen eingebunden<br />

sind, nur schwer Anschluss finden und/oder die sich in labilen Gruppenstrukturen mit „prekären Zugehörigkeiten“<br />

begegnen. Während eine Defizitbewältigung im ersten Gruppentyp vor allem über Solidarität und Emotionalität<br />

erfolgt, spielt im zweiten Gruppentyp gewaltförmiges und deviantes Verhalten häufig eine Rolle. Hier<br />

sind die Gruppenaktivitäten oft von „Rumhängen und Langweilen“ geprägt. Jedoch verweist nicht nur die Untersuchung<br />

von Wellgraf (2012) zu Hauptschülerinnen und Hauptschülern darauf, dass Jugendliche in<br />

Peergroups in erster Linie Anerkennung suchen, die es ihnen ermöglicht, ein positives Selbstwertgefühl zu entwickeln<br />

und Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten aufzubauen (ebd.; auch Honneth 2010). Gerade auch in gegenkulturellen<br />

Gruppen, die häufig unter dem Begriff der „Gang“ oder „Bande“ firmieren, sind trotz gruppeninterner<br />

Hierarchien gegenseitige Achtung und Verantwortung von zentraler Bedeutung, die den Jugendlichen die<br />

Anerkennung verschaffen, die ihnen in anderen Lebensbereichen (z. B. Schule, Familie, Gesellschaft) häufig<br />

verwehrt bleibt. Delinquenz und Gewalt als Bewältigungs- und Distinktionsstrategien, deren Rationalität aus<br />

den jeweiligen lebensweltlichen Erfahrungsräumen erwächst, spielen hier zwar eine Rolle, jedoch ist die soziale<br />

Funktion der Gruppe das Entscheidende für die Jugendlichen (vgl. Eckert 2012, auch Toprak/El-Mafaalani<br />

2011).<br />

Daneben verweist Eckert (2012) auf einen Gruppentyp, der sich über die „Erzeugung von persönlicher Kompetenz“<br />

charakterisiert und für Jugendliche vor allem als interessenbezogener Lernraum von Bedeutung ist. Jugendliche<br />

sind hier entweder fluide eingebunden, um in wechselnden Gruppen ihren persönlichen Interessen<br />

nachgehen zu können oder relativ kontinuierlich, um in einer Clique ihre sportlichen, musikalischen oder politischen<br />

Interessen auszubauen. Hierzu zählen auch informelle Gruppen, die sich einer bestimmten Jugendszene<br />

(z. B. Hip-Hopper, Skater, Punks) zurechnen und darüber ein gruppenbezogenes Selbstverständnis entwickeln.<br />

Je nach Interessengebiet kann dabei auch delinquentes oder gewaltbezogenes Verhalten eine Rolle spielen (vgl.<br />

auch Abs. 3.4).<br />

Informelle Gleichaltrigengruppen sind jedoch keine statischen Gebilde, sondern wandeln sich sowohl in ihrer<br />

personalen Zusammensetzung, ihren Hierarchien als auch in den Bedeutungszuschreibungen, die Jugendliche<br />

damit verbinden. Je nach Alter, eigenen Interessen und biografischen Problemlagen sowie strukturellen Einbindungen<br />

verändern sich Zugangs- und Gestaltungsmöglichkeiten sowie die Funktionen, die Peergroups für Jugendliche<br />

haben.<br />

3.3.2.2 Peerkulturelle Praktiken in der Clique<br />

In einer Reihe von Studien geben befragte Jugendliche an, sich in ihrer Freizeit mit Freunden zu treffen, zu<br />

chillen oder rumzuhängen sowie Party zu machen, Diskotheken oder Kneipen zu besuchen (Shell Deutschland<br />

Holding 2010; Shell Deutschland Holding 2015; Geier 2015). Zumeist werden diese Aspekte nicht aufeinander<br />

bezogen, jedoch ist davon auszugehen, dass dies alles Aktivitäten sind, die mehrheitlich gemeinsam mit Gleichaltrigen<br />

ausgeführt werden. Das Treffen mit Freunden, das ca. 90 Prozent der Jugendlichen als häufige Aktivität<br />

angeben (Geider 2015), beinhaltet dabei ganz unterschiedliche Praktiken, die stark durch (verbale oder nonverbale)<br />

Kommunikation (Reden über bestimmte Themen, Lästern über andere Gleichaltrige oder Lehrer, Rumspinnen,<br />

Necken etc.) und/oder von konkreten gemeinsamen Aktivitäten (Sport treiben, Tanzen, Musik machen)<br />

geprägt sein können.<br />

Ein zentraler Aspekt peerkultureller Praktiken ist damit das nicht an konkrete Ziele oder Zwecke gebundene<br />

Zusammensein und die Kommunikation über unterschiedliche Alltagsthemen als Aktivitäten, die sich hinter<br />

Begriffen wie „Rumhängen“, „Abhängen“ oder „Chillen“ verbergen. Im Unterschied zur stärkeren thematischen<br />

Fokussierung innerhalb formalisierter Gruppen beziehen sich diese Gesprächsthemen stärker auf Beziehungsund<br />

Identitätsaspekte und müssen von den Gruppenmitgliedern selbst gesetzt und aktiv strukturiert werden. Die<br />

Kommunikationsthemen sind dabei so vielfältig wie die Lebenswelten und Erfahrungsräume der Jugendlichen<br />

selbst und beziehen sich etwa auf gemeinsame Erlebnisse und Interessen, andere Gleichaltrige, persönliche,<br />

familiale und schulische Erfahrungen und Probleme, Fragen von Mode, Musik, Medien etc.<br />

Jugendliche entwickeln dabei oft – durch kreative Akte veränderter Bedeutungszuschreibungen – eigene<br />

Sprachcodes und -regeln, die ihnen zur Identifikation nach innen und zur Abgrenzung nach außen dienen und

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!