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Kinderund

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Drucksache 18/11050 – 264 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode<br />

von Wert sind, weil sie nur dort, sozusagen exklusiv, erworben werden können“ (ebd., S. 65). Am Beispiel der<br />

Neukölln Ghetto Boys kann Wellgraf (2012, ähnlich auch Tertilt 1996) jedoch zeigen, dass es den Jugendlichen<br />

in sogenannten Straßengangs eben nicht primär um Gewalt und Delinquenz an sich geht, sondern um Freundschaft,<br />

soziale Anerkennung und ein Aufgehobensein in der Freundesgruppe. Großstädtische Straßencliquen<br />

sind damit eben genau keine kriminellen Vereinigungen, sondern bieten den Jugendlichen in der Reaktion auf<br />

Exklusionserfahrungen im Hinblick auf die soziale Lage, die Bildungsmilieus und die sozialräumliche Platzierung<br />

in benachteiligten Quartieren die Anerkennung, die ihnen sonst verwehrt bleibt.<br />

Deutlich drückt sich dies in den Texten des Hip Hop oder des sogenannten Gangsta-Rap als Spielart aus, in dem<br />

von Jugendlichen selbst das Aufwachsen in besonders problembehafteten Quartieren thematisiert wird und<br />

gleichzeitig zum subkulturellen Kapital avanciert: „Man provoziert staatliche Institutionen und die bürgerliche<br />

Öffentlichkeit, von denen man sich ohnehin ausgeschlossen fühlt“ (El-Mafalaani/Strohmeier 2015, S. 33) und<br />

stellt Härte, Gewalt und Delinquenz als jugendliche Lebensrealität im „Ghetto“ dar. Der segregierte Raum wird<br />

zum Identitätsstifter und exkludiert alle, „die ‚weich‘ und keine ‚echten Kanaken‘ sind“ (Dietrich 2015, S. 243).<br />

Gleichzeitig wird damit eine „Parallelgesellschaft“ konstruiert, in der segregierte Räume „unter Vorzeichen<br />

subkulturell verbindlicher Leitorientierungen“ (ebd.) aufgewertet werden. In den Texten entsteht so ein „Raum<br />

als Bühne für das subkulturell inkorporierte Kapital, das herkömmlichem kulturellem Kapital (Stichwort ‚Nachhilfeunterricht‘<br />

45 ) überlegen ist“ (ebd.) und im Kontext der jugendlichen Gang und nur im segregierten Raum<br />

selbst erworben werden kann.<br />

Schulze (2007) interpretiert die lokale Bezugnahme von migrantischen Jugendlichen auf einzelne Stadtteile<br />

(„Und ich fühl mich als Kölner, speziell als Nippeser“) dabei als Ausweg aus dem Dilemma, sich in einer Gesellschaft<br />

verorten zu müssen, die gerade dies verweigert. Zugehörigkeit zu segregiertem Raum scheint damit<br />

eine alternative Zugehörigkeit jenseits einer nationalen, eindeutigen Kodierung zu sein. Nichtsdestotrotz erweist<br />

sich die Verortung im Stadtquartier vielfach auch als widersprüchlicher Prozess, wenn Quartiere marginalisierte<br />

Stadtviertel darstellen, die im öffentlichen Diskurs, in den Medien und im Alltagswissen der Bevölkerung einen<br />

„schlechten Ruf“ genießen. Migrantische Jugendliche laufen dann Gefahr, einem doppelten Stigmatisierungsprozess<br />

(„Othering“) ausgesetzt zu sein und erfahren im negativen Fall entindividualisierende, zuschreibende<br />

Thematisierungen ihrer selbst aufgrund ihres sogenannten Migrationshintergrundes und ihres Wohnraums. Widerständige<br />

Praktiken und Handlungsstrategien gegen diesen Mehrheitsblick und seine Implikationen können<br />

dann oben genannte Gegenentwürfe oder das selbstbewusste Spielen mit den stigmatisierten Zugehörigkeiten<br />

sein.<br />

Die bisherigen Studien zu strukturschwachen schrumpfenden ländlichen Regionen lenken ihren Blick vor allem<br />

auf die mit Peripherisierungsprozessen verbundene infrastrukturelle Abkopplung und soziale Ausdünnung, die<br />

sich in objektiven geografischen Distanzen (im Sinne von Kilometern) abbildet und über den Modus der Erreichbarkeit<br />

auf unterschiedliche Möglichkeits- und Begrenzungsräume für Jugendliche verweist. Distanzen als<br />

Entfernungen können für urbane Räume jedoch nicht in Anschlag gebracht werden, dafür steht die Frage sozial<br />

homogener Quartiere und ihrer Begrenzungen von Handlungsräumen im Mittelpunkt. Hier werden Distanzen<br />

zur Frage sozialer Distanzen und umso deutlicher ist der Fokus auf soziale Mechanismen und Praktiken der<br />

Exklusion gerichtet. „Die benachteiligenden Effekte eines Milieus, das aus Benachteiligten gebildet wird, ergeben<br />

sich aus den Sozialisationseffekten und den Beschränkungen sozialer Interaktion, d. h. aus der Einschränkung<br />

der sozialen Erfahrung und aus dem restriktiven Charakter von Austauschprozessen.“ (Häußermann/Kronauer<br />

2009, S. 164). So plausibel Annahmen aus makrostrukturellen Beobachtungen (etwa der räumlichen<br />

Konzentration von Arbeitslosigkeit oder der räumlichen Ausdünnung von infrastrukturellen Angeboten)<br />

sind, so wenig differenziert sind bisher die Perspektiven Jugendlicher auf ihre jeweiligen Räume in den Blick<br />

geraten. Letztlich entsteht so der Eindruck von ortsbezogenen „Ansteckungseffekten“ denen Jugendliche passiv<br />

unterliegen, die jedoch empirisch kaum bestätigt werden können. Insofern ist davon auszugehen, dass nicht<br />

statische sozialstrukturelle regionale Disparitäten Jugendräume begrenzen, sondern diese sehr viel stärker über<br />

Handlungspraktiken vermittelt sind, denen Mechanismen sozialer Ungleichheit eingeschrieben sein können.<br />

45<br />

Folgender Text des Rappers Haftbefehl ist hier Bezugspunkt: „Als ich dreißig Pakete Hasch gefahren hab‘ nach Düsseldorf saßt du im<br />

Nachhilfeunterricht, du Missgeburt“ (Dietrich 2015, S. 242).

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