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Kinderund

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Drucksache 18/11050 – 252 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode<br />

deren Erreichen – vor allem für die jüngeren, weniger mobilen Kinder und Jugendlichen – von den Transportmöglichkeiten<br />

der Erwachsenen abhängen. Die dazwischen liegenden öffentlichen Räume werden damit nicht<br />

mehr – wie noch im Muster der Straßenkindheit – erfahren, sondern nur noch durchquert (vgl. Zeiher/Zeiher<br />

1994). Mit zunehmendem Alter werden jedoch eigene Mobilitätsanstrengungen sowie eigene Planungs- und<br />

Koordinierungskompetenzen relevanter, möchte man nicht mehr von den Eltern abhängig sein und sich unkontrollierter<br />

und selbstständiger im Raum bewegen. Grundsätzlich werden die Aktionsräume der Jugendlichen mit<br />

zunehmendem Alter größer, sind aber immer auch abhängig von ihren Interessen, ihren sozialen Beziehungen<br />

sowie ihren finanziellen Möglichkeiten, die das Erreichen weit(er) entfernter Orte mit bedingen. Zusammenhänge<br />

zu den Aktionsräumen von Jugendlichen zeigen sich damit auch mit Blick auf den sozioökonomischen<br />

Status und die Wohnlage, sodass sich der Bewegungsradius von Armut betroffener Jugendlicher eher auf das<br />

nähere Wohnumfeld bezieht, sich aber mit zunehmendem Alter auch vergrößern kann, sofern sich etwa über<br />

Peerbeziehungen Möglichkeiten bieten (Chassé 2004).<br />

Während im Konzept von Zeiher und Zeiher zur kindlichen Raumaneignung davon ausgegangen wird, dass die<br />

Zwischenräume zwischen den Inseln weniger selbstständig erfahren und angeeignet, sondern erwachsenenabhängig<br />

durchquert werden, lassen sich doch deutliche Unterschiede in den Bewegungspraktiken von Jugendlichen<br />

auch zwischen verschiedenen Regionstypen vermuten. So stellt Wehmeyer (2013) fest, dass Kleinstädte<br />

aufgrund geringer Entfernungen zwischen den für Jugendliche relevanten Orten, wie Schule, Innenstadt, Vereine,<br />

Sport- und Spielplätze oder andere informelle Treffpunkte eher eine selbstständige und schrittweise Erweiterung<br />

des Handlungsraums ermöglichen. Für Großstädte und strukturschwache ländliche Regionen gilt dies hingegen<br />

weniger, zumindest dann nicht, wenn Jugendlichen die Möglichkeiten, die das nahe Wohnumfeld bietet,<br />

nicht attraktiv erscheinen oder Schulen nur über größere Mobilitätsanstrengungen erreichbar und vor allem<br />

jüngere Jugendliche noch stärker transportabhängig sind. Zudem ist empirisch noch kaum bearbeitet, wie Jugendliche<br />

auch die Zwischenräume (Straßenraum, gemeinsame Nutzung des Nahverkehrs und damit verbundene<br />

Wartezeiten), die mit zunehmendem Alter gemeinsam durchquert werden, peerkulturell ausgestalten und<br />

eigene Aneignungsformen entwickeln.<br />

Die wenigen Studien, die es bislang zu den Aneignungspraktiken öffentlicher Räume durch Jugendliche gibt,<br />

verweisen übergreifend auf ähnliche Muster jugendlicher Raumaneignung. So zeigen sich zum einen mobile<br />

Raumpraktiken, in denen der konkrete Ort als fixer Treffpunkt weniger wichtig ist als das gemeinsame Durchqueren<br />

des öffentlichen Raums. Jugendliche verfolgen – indem sie scheinbar ziellos durch Fußgängerzonen<br />

flanieren, mit der S-Bahn hin und her fahren oder durch Einkaufszentren schlendern – eine transitorische<br />

Raumpraxis (Muri/Friedrich 2008; Grunert/Deinert 2010), deren nicht funktional ausgerichtete Wegfiguren<br />

ihnen ein hohes Maß an Kontrollfreiheit und Selbstbestimmung ermöglicht. Hier werden gerade die Zwischenräume<br />

zu peerkulturell bedeutungsvollen (Frei-)Räumen.<br />

Ein zweites Muster, das ebenfalls eine hohe Dynamik aufweist, ist stärker in jugendkulturelle Zusammenhänge<br />

eingebettet und findet sich vor allem bei sport- und bewegungsorientierten Jugendszenen. So sind etwa Skater,<br />

BMX-Fahrer, Rollerblader oder Traceure immer auf der Suche nach den besten Orten, um neue Herausforderungen<br />

für ihre actionorientierten Praktiken zu finden. Der öffentliche Raum wird hier bewusst flexibel angeeignet<br />

und gruppenspezifisch mit eigenen Bedeutungen versehen, aus denen sich auch szenespezifische Sprachcodes<br />

für Merkmale des Raumes ergeben. Dabei geht es weniger um dauerhafte Treffpunkte, sondern um befristete<br />

Nutzungen (vgl. Grunert/Deinert 2010; Wehmeyer 2013). Ortswechsel können jedoch aufgrund des stärkeren<br />

Kontaktes zur Erwachsenenwelt immer auch erzwungen und mit Verdrängungserfahrungen verbunden sein.<br />

Ein ähnliches Raumaneignungsmuster könnte sich auch bei Sprayern bzw. Graffitikünstlern zeigen, wenngleich<br />

hier Raumwechsel und die Flüchtigkeit des Raumbezuges auch Teil der Jugendkultur selbst sind.<br />

Ein drittes Muster zeigt sich bei Jugendlichen, die den öffentlichen Raum als „hang out“-Zone nutzen, was stärker<br />

auf statische Aneignungspraktiken verweist. Bushaltestellen, Spielplätze, Parks, Parkplätze o. ä. werden<br />

dann als fixe Orte zu Treffpunkten Jugendlicher. Dabei lässt sich noch einmal zwischen stärker kontrollierten<br />

öffentlichen Räumen, wie Bushaltestellen oder Marktplätzen, und weniger kontrollierten Nischenräumen, wie<br />

Parks oder Naturräumen, aber auch Brachen und (vorübergehend) ungenutzten Resträumen, unterscheiden (vgl.<br />

auch Wehmeyer 2013; Grunert/Deinert 2010). Während der Aufenthalt von Jugendlichen im ersten Fall häufig<br />

mit einer stark vorurteilsgeprägten intergenerationalen Wahrnehmung verbunden sein und mit Verboten oder<br />

zumindest Stigmatisierungsprozessen einhergehen kann (vgl. Muri/Friedrich 2008; May 2011), sind die Nischenräume<br />

für Jugendliche eher Rückzugsräume aus dem intergenerationalen Geschehen. Sie bieten ihnen<br />

gleichzeitig vielfältige Möglichkeiten der kreativen Nutzung und Uminterpretation, etwa wenn aus einer alten<br />

Fabrikhalle ein Jugendtreffpunkt oder aus einem leer stehenden Kiosk ein Ausstellungsraum für junge Künstle-

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