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Kinderund

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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 251 – Drucksache 18/11050<br />

3.8.1 Was tun Jugendliche in öffentlichen Räumen?<br />

Jugendliche im öffentlichen Raum – verbunden werden mit dieser Thematik im öffentlichen Diskurs vor allem<br />

Negativszenarien von Sachbeschädigung, Lärmbelästigung oder provokantem und gewaltförmigen Verhalten<br />

Jugendlicher. Solche problematisierenden Perspektiven auf jugendliches Raumhandeln verdecken dabei die<br />

Frage danach, welche spezifischen Bewegungs- und Aneignungspraktiken Jugendliche als intensive und regelmäßige<br />

Nutzerinnen und Nutzer öffentlicher Räume konkret ausbilden und warum sie dies tun. Aus Erwachsenensicht<br />

kritische Aneignungsmuster könnten dann etwa als spezifische jugendliche Ausdrucksformen betrachtet<br />

werden, in denen sich Identitätssuche und der Wunsch nach Selbstbestimmung widerspiegeln. Wenngleich<br />

dabei immer auch problematische Muster entstehen können, erscheint ein Verständnis jugendlicher Raumaneignungspraktiken<br />

fundamental, will man nachvollziehen, welche Bedeutung unterschiedliche öffentliche Räume<br />

für Jugendliche haben, wie sie vor diesem Hintergrund ihre eigenen Räume konstruieren und wo und warum<br />

sich Spannungsfelder ergeben können. Dabei geht es zunächst erst einmal weniger um die lokale Verortung<br />

dieser Räume in Stadt oder Land, segregiert oder nicht segregiert, sondern es geht grundsätzlich um die Art und<br />

Weise des Umgangs mit und des Agierens Jugendlicher in öffentlichen Räumen.<br />

Differenzieren lässt sich nach Nissen (1998) zunächst zwischen öffentlichen Räumen (öffentliche Plätze, Grünflächen,<br />

Parks, Spielplätze, Bushaltestellen etc.), öffentlich zugänglichen verhäuslichten Räumen (Einkaufszentren/Shopping<br />

Malls, Bahnhöfe etc.) sowie institutionalisierten öffentlichen Räumen (Sportanlagen, Vereinsräume,<br />

Musikschulen, Schulräume, Kirchenräume etc.). Diese Arten von Räumen unterscheiden sich vor allem<br />

durch den Grad der Kontrolle und der Regeln, denen das Handeln von Jugendlichen in diesen Räumen unterliegt.<br />

Während öffentliche Räume auf den ersten Blick als am wenigsten kontrolliert gelten, sind institutionalisierte<br />

öffentliche Räume deutlich funktionsbestimmter und stärker pädagogisch aufbereitet.<br />

Nicht-institutionalisierte öffentliche Räume spielen mit zunehmendem Alter im Leben von Jugendlichen eine<br />

wichtigere Rolle, vor allem deswegen, weil für sie Orte der unkontrollierten Peervergemeinschaftung bedeutsamer<br />

werden und Vereine, die Schule, Jugendzentren oder andere institutionalisierte öffentliche Räume diesem<br />

Bedürfnis nur begrenzt nachkommen (können). Der nicht-institutionalisierte öffentliche Raum ist deshalb für<br />

Jugendliche primär als Gesellungsraum relevant und wird dabei zum Möglichkeitsraum der Selbstinszenierung,<br />

der Verselbstständigung, des Ausprobierens wie auch der Grenzüberschreitung (vgl. Gestring/Neumann 2007).<br />

Gleichzeitig sind öffentliche Räume auch vermehrt als Sporträume von Bedeutung: „In Großstädten wie Berlin<br />

und Hamburg finden auf Sportplätzen lediglich noch fünf bis sechs Prozent der sportlichen Aktivitäten statt.<br />

Parkanlagen, Straßen und Plätze, aber auch Schulhöfe und Freiflächen von Jugendeinrichtungen sind bevorzugte<br />

Orte für Sport und Bewegung im Freien“ (Reicher 2015, S. 85). Eine geringere Nutzung von Sportanlagen<br />

kann jedoch nicht nur mit dem Bedürfnis nach unkontrollierten und freien Bewegungsmöglichkeiten zusammenhängen,<br />

sondern auch durch höhere Zugangshürden zu diesen begründet sein.<br />

Der Diskurs um Jugendliche im öffentlichen Raum bewegt sich dabei zwischen den Polen der Verdrängung aus<br />

dem öffentlichen Raum auf der einen und der Rückeroberung sowie dem spezifischen Aneignungsverhalten des<br />

öffentlichen Raums durch Jugendliche auf der anderen Seite. Neuere Untersuchungen zeigen dabei, dass Jugendliche<br />

nicht nur die weniger kontrollierten und verregelten nicht-institutionalisierten öffentlichen Räume als<br />

Kontakträume nutzen, sondern vor allem in Großstädten zunehmend auch Einkaufszentren oder Fußgängerzonen<br />

zu jugendlichen Treffpunkten werden. Beide Arten von Räumen sind für Jugendliche relevant, um außerhalb<br />

familialer und schulischer Abhängigkeiten, selbstbestimmt und selbstständig handeln zu können. Dabei<br />

entwickeln sie immer auch peerkulturell spezifische Aneignungspraktiken, die sich von denen Erwachsener<br />

unterscheiden und Selbstpositionierungen ermöglichen. Nicht-institutionalisierte öffentliche Räume sind für<br />

Jugendliche damit Möglichkeitsräume der Selbstbestimmung, Eigenverantwortung und Autonomie, insofern sie<br />

darin direkten Kontrollen entzogen und weniger Verbindlichkeiten ausgesetzt sind. Dennoch sind dies keine<br />

Räume, die den Jugendlichen prinzipiell offenstehen und jederzeit frei verfügbar sind. Vielmehr sind es immer<br />

auch von Erwachsenen reklamierte und funktionsbestimmte Räume, die keineswegs frei von Verhaltensbestimmungen<br />

und Kontrollen sind. Diese sind jedoch, anders als in familialen, schulischen oder anderen institutionalisierten<br />

öffentlichen Räumen, wesentlich anonymer und häufig nur latent erfahrbar.<br />

Jugendliche eignen sich nicht-institutionalisierte öffentliche Räume auf sehr unterschiedliche Art und Weise an.<br />

Bereits die zu Beginn der 1990er-Jahre durchgeführten Untersuchungen von Zeiher und Zeiher zeigen zum<br />

einen, dass unter modernen Lebensbedingungen Kinder – nicht mehr nur in Großstädten – ihre Zeit in funktionsgebundenen<br />

Inseln (Schule, Vereine etc.) verbringen, die sich über den gesamten Stadtraum verteilen und

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