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Kinderund

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Drucksache 18/11050 – 90 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode<br />

entwickeln können, da die Logik des Sozialisationsprozesses eine andere sei als die des Produktionsprozesses“<br />

(Böhnisch 1982, S. 86f.).<br />

– Die Konzeption von Jugend als Phase der Qualifikation im Kontext pädagogisch orientierter Interaktionen<br />

mit Erwachsenen bildet ein zweites Strukturmerkmal des Entwurfs einer Jugend als Moratorium, dem im<br />

Verlauf des 20. Jahrhunderts immer wieder und zuletzt seit den 2000er Jahren große Aufmerksamkeit gewidmet<br />

wurde. Im Bereich der politischen Regulation stehen dafür etwa die Einführung und Ausweitung<br />

der Schulpflicht sowie die Professionalisierung pädagogischer Berufe.<br />

– Drittens steht damit verbunden die Entwicklung spezifischer Institutionen der gesellschaftlichen Verinselung<br />

von Jugend in Form von Jugend- und Bildungseinrichtungen, wie Schulen, die besondere Inklusionsräume<br />

für Jugendliche in modernen Gesellschaften bereithalten. Gegenwärtig wird die Sicherung von Teilhabe<br />

in Institutionen u. a. in der Umsetzung der Inklusion von Jugendlichen mit sonderpädagogischen Förderbedarfen<br />

an allgemeinbildenden Schulen sowie in der Kinder- und Jugendhilfe neu geregelt.<br />

– „Moratorien des Aufwachsens“ sind schließlich viertens in der Ausrichtung auf den Lebenslauf zeitlich<br />

befristet. Die je definierten zeitlichen Grenzen unterliegen einerseits dem sozialhistorischen Wandel, wie<br />

etwa der Ausweitung und späteren Einschränkung von Regelungen zu sexueller Teilhabe im Jugendalter.<br />

Andererseits sind sie für spezifische soziale Gruppen unterschiedlich ausbuchstabiert, wie bspw. differente<br />

Regelungen zur Schulpflicht für geflüchtete Jugendliche oder für Jugendliche mit sonderpädagogischen<br />

Förderbedarfen zeigen. Nicht zuletzt bestehen im Zusammenhang sozialhistorischer Epochen und kultureller<br />

Kontexte auch unterschiedliche inhaltliche Konzeptionen eines Moratoriums, etwa als Zeitraum der<br />

Vorbereitung auf die gesellschaftlichen Aufgaben Erwachsener, der Selbstentfaltung oder des Schutzes vor<br />

gesellschaftlichen Anforderungen. Damit verbunden sind differente Formen der Ko-Konstruktion des Moratoriums<br />

durch Jugendliche.<br />

Neben dieser stark auf die gesellschaftliche Regulation von Jugend abzielenden Konzeption eines Moratoriums<br />

bestehen weiterführende Konzeptionen etwa in der Annahme eines „psychosozialen Moratoriums“ als auf Individuation<br />

ausgerichteter Möglichkeitsraum, „bei dem eigensinnig und eigenständig experimentiert werden kann<br />

und bei dem ohne starre Regelungen und mit genügend Raum und Zeit innere und äußere Realität umgearbeitet<br />

werden kann“ (King 2004, S. 40). Diese Zugänge setzen vor allem adoleszenztheoretisch an und gehen davon<br />

aus, dass sich junge Menschen einen Entwicklungsraum nehmen und auch dringend benötigen, um biophysische<br />

und damit verbundene soziale Veränderungen zu bearbeiten.<br />

Kritische Reflexionen sehen dagegen das Konzept des „Ausbildungsmoratoriums“ in seiner Funktion zur Herstellung<br />

von „Verfügbarkeit und Loyalität von Arbeitskräften und Untertanen“ und nicht in der Perspektive der<br />

„Freigabe eines von den Heranwachsenden selbst gestalteten Lebensentwurfs“ (Bosse 2000, S. 53). In Übereinstimmung<br />

mit dieser Kritik verweisen auch allgemeinere Bezüge auf das Moratoriumskonzept darauf, dass<br />

strukturelle Mechanismen der Sicherung eines jugendlichen Moratoriums nicht auf die Gewährung von sozialen<br />

Handlungsspielräumen der individuellen Entwicklung hin angelegt sind, wie es die Begriffe „Schonraum“,<br />

„Auszeit“ oder „Entpflichtung“ (z. B. Zinnecker 2000) nahelegen, sondern in erster Linie Zwänge auf Angehörige<br />

einer Generation mit dem Ziel der gesellschaftlichen Integration ausüben (z. B. Schröer/Böhnisch 2007;<br />

Bojanowski/Eckert 2012).<br />

Das damit in einer übergeordneten Form beschriebene Jugendmoratorium umfasst also konzeptionell zugleich<br />

gesellschaftliche Erwartungen an Jugendliche in Form von Qualifizierung und Verselbstständigung wie auch<br />

Anforderungen an ästhetische, wertbezogene und soziale Orientierung und Selbstpositionierung. Die Konzeptionen<br />

des jugendlichen Moratoriums prägt folglich die grundlegende Dualität eines proklamierten sozialen<br />

Handlungsspielraums als Entlastung einerseits und der mit seinen Institutionalisierungen verbundenen Integrationsanforderungen<br />

andererseits. Diese konzeptionelle Unbestimmtheit dokumentiert sich bis in neuere empirisch<br />

fundierte Typologien hinein, in denen mit dem Begriff des Bildungsmoratoriums der ziel- und erfolgsorientierte<br />

Abschluss von Ausbildungskarrieren und mit dem Begriff des Freizeitmoratoriums eine auf Wohlbefinden und<br />

Selbstverwirklichung orientierte Verlängerung der Jugendphase bezeichnet wird (z. B. Reinders 2006). Sie dokumentiert<br />

sich selbst noch in Beschreibungen aktueller Transformationen gesellschaftlicher Jugendbilder hin<br />

zu einem „Optimierungsmoratorium“, in dem beschrieben wird, dass vor dem Hintergrund einer Konzentration<br />

auf beschleunigte und individualisierte Bildungskarrieren Freiräume zum selbstbestimmten und informellen<br />

Lernen im Jugendalter beschnitten werden (Reinders 2016).<br />

Zugleich wird das Moratorium als sozialer Zusammenhang bereits seit den 1970er Jahren auf die Altersgruppe<br />

der Jugend insgesamt bezogen, Jugend also als ein gesellschaftlicher Raum der Sicherstellung von Integration

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