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Kinderund

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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 77 – Drucksache 18/11050<br />

1.1.2 Die Jugend der Schulen<br />

Auch die Schulreformen, z. B. die Ausweitung der Ganztagsschule oder die Verdichtung (vgl. Lüders 2007a)<br />

von Qualifizierungsprozessen (z. B. die Politik um das sogenannte G12), lassen bisher, wenn überhaupt, nur ein<br />

implizites Jugendbild erkennen und sind hinsichtlich ihrer jugendpolitischen Konsequenzen nur in Ansätzen<br />

reflektiert worden. Der Begriff der „Scholarisierung des Jugendalters“ (Fraij u. a. 2015) beschreibt in diesem<br />

Zusammenhang, dass junge Menschen unabhängig vom konkreten Bildungsniveau zunehmend mehr Zeit für<br />

Qualifikationsprozesse in Institutionen aufwenden und diese gleichzeitig subjektiv höhere Bedeutung erfahren.<br />

Vor diesem Hintergrund gewinnen schulische Konstruktionen von Jugend für junge Menschen an Gewicht (vgl.<br />

Hagedorn 2017).<br />

Im Kontext der Diskussionen um Schule werden Jugendliche vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Auftrags<br />

der Qualifizierung in erster Linie als Schülerinnen und Schüler adressiert. In kaum einem anderen gesellschaftlichen<br />

Bereich werden junge Menschen so stark und geschlossen in ihrer institutionellen Rolle gefordert.<br />

Vor dem Hintergrund der beschriebenen Trends zum Bedeutungsgewinn schulischer Qualifikationen im Leben<br />

Jugendlicher stellt sich jedoch die Frage, ob gegenwärtige Konzepte, z. B. der Ganztagsschule, diese feste Rollenzuweisung<br />

aufbrechen und sich Schule in die Richtung einer Organisation des Jugendalters öffnen kann (vgl.<br />

ausführlich Kap. 5). Konzeptionelle Entwürfe für eine jugendorientierte Schule umfassen Änderungen auf der<br />

Ebene der Organisation des Schulalltags, in den Beziehungs- und Partizipationsverhältnissen sowie im Hinblick<br />

auf die zu vermittelnden Inhalte.<br />

Grundlegend für eine Betrachtung der Bilder von Jugend im Kontext von Schule ist zudem, dass vor dem Hintergrund<br />

von Diskussionen um die Qualität von Schule und die Herstellung von Chancengleichheit ein Paradigmenwechsel<br />

zu beobachten ist, der als Liberalisierung und Flexibilisierung in der Steuerung des Schulsystems<br />

beschrieben werden kann (vgl. Bellmann/Weiß 2009). Dieser Wechsel schlägt sich auf der Ebene der Akteure<br />

in einer Gesamtstrategie der „choice policies“ (ebd., S. 287) nieder, durch welche für den Qualifizierungserfolg<br />

von Jugendlichen diese selbst verantwortlich gemacht werden. Jugend wird in diesem Zusammenhang<br />

auch als auf die Beschleunigung von individualisierten Bildungskarrieren ausgerichtetes „Optimierungsmoratorium“<br />

beschrieben (Reinders 2016). Institutionelle Bedingungen des Qualifizierungserfolgs spezifischer sozialer<br />

Gruppen kommen dabei kaum in den Blick. Jugendliche werden hier tendenziell als Nutzerinnen und Nutzer<br />

von Schule und als eigenständige Akteure ihrer Ausbildungskarrieren gesehen (vgl. Drieschner 2007), die im<br />

Wettbewerb um anerkannte Zertifikate selbstverantwortlich ihre Biografie gestalten.<br />

Zugleich drückt sich auch in vielen schulpolitischen Maßnahmen der vergangenen Jahre das arbeitsmarktpolitische<br />

Ziel der Stärkung der Beschäftigungsfähigkeit von Jugendlichen aus, so z. B. bei der Verlängerung schulischer<br />

Qualifizierungsprozesse für Jugendliche mit niedrigen Qualifikationen im sogenannten „Übergangssystem“<br />

(vgl. Kap. 7) sowie dem Trend der Vorverlagerung und Beschleunigung von Ausbildungskarrieren in höher<br />

qualifizierenden Bildungsinstitutionen. Demgegenüber mangelt es an der bildungspolitischen Implementation<br />

anderer Bildungsziele. So werden z. B. Fragen der politischen Bildung von Jugendlichen im Schulalltag<br />

über den Unterricht hinaus – wenn überhaupt – nur in vereinzelten Projekten thematisiert. Von einer Bildung zu<br />

„active citizen“, wie es die Programme der Europäischen Union fordern, ist darum in den Schulen, bezogen auf<br />

das Jugendalter, nur wenig zu erkennen.<br />

Insgesamt führt die schulische Selektionsfunktion in Bezug auf die Rolle der Lernenden zu einer Orientierung<br />

an erfolgreichen Schulkarrieren und zu Praktiken der Exklusion von Lernenden, die den institutionellen Anforderungen<br />

der Schule an Verhalten und Lernleistung nicht genügen. Konzepte wie das der „Bildungsferne“ werden<br />

darin zu Legitimationszusammenhängen, mit denen mangelnder Qualifizierungserfolg von Jugendlichen als<br />

Folge spezifischer Bedingungen des Aufwachsens gedeutet werden kann (vgl. Wiezorek/Pardo-Puhlmann<br />

2013). Die Ausrichtung von Schule auf die Vergabe wettbewerbsorientierter Zertifikate korrespondiert dabei<br />

mit Prozessen der Deregulierung und Marktöffnung im Schulsystem sowie mit den gegenläufigen zeitstrukturellen<br />

Entwicklungen einer Beschleunigung „erfolgreicher“ und einer Verzögerung „erfolgloser“ Ausbildungskarrieren.<br />

1.1.3 Die Jugend der Kinder- und Jugendarbeit<br />

Im Unterschied zum Jugendbild der Schulen steht in der Jugendarbeit eine Konzeption junger Menschen als<br />

eigenverantwortliche Akteure im Vordergrund, also Jugendliche, die mit kreativen Formen das alltägliche Le-

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