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Kinderund

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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 331 – Drucksache 18/11050<br />

genommen, indem sich die Schulzeit für alle ausgeweitet hat 72 und im Schnitt höhere Bildungsabschlüsse angestrebt<br />

und diese meist auch erreicht werden (vgl. die Befunde in Kap. 2). Gleichzeitig ist das Verhältnis von<br />

Schule und Jugend durch eine Ungleichheitsrelation geprägt, weil schulische Bildungsentscheidungen und -<br />

erfolge weiterhin stark durch soziale Herkunft beeinflusst werden und von sozioökonomischen Bedingungen<br />

abhängig sind (vgl. Hurrelmann u. a. 2014, S. 65f.).<br />

Darüber hinaus befinden sich Jugendliche in der Schule in Handlungswidersprüchlichkeiten, die institutionell<br />

geprägt und gesellschaftlich mitbedingt sind, aber individuell bewältigt werden müssen. Helsper sieht daher<br />

Jugend mit sogenannten Antinomien bzw. „Modernisierungsambivalenzen“ konfrontiert (Helsper 2012, S. 77),<br />

die in der jeweiligen Schule bearbeitet und mit ihren Konzepten, der etablierten Kultur sowie der Organisation<br />

der Angebote strukturell beantwortet werden:<br />

– Individualisierungsantinomie: Während Jugendliche grundsätzlich und relativ früh ein hohes Maß an Freiheit<br />

in der Lebensgestaltung und den Lebensoptionen erleben, sehen sie sich aber auch mit einer gesteigerten<br />

persönlichen Verantwortung hierfür konfrontiert, die zu einer Belastung werden kann (ebd., S. 77).<br />

– Rationalisierungsantinomie: Damit nimmt der individuelle Freiheitsanspruch zu, der umso mehr in institutionellen<br />

Kontexten als eingeschränkt erlebt, gewissermaßen situativ oder aufgrund zugeschriebener Rollenmuster<br />

als Einengung bzw. Verlust dieser Freiheit wahrgenommen wird (ebd., S. 79). Hier können<br />

Ganztagsschulen sowohl als Orte der Vereinnahmung (Begrenzung freier Zeit, Konfrontation mit schulischen<br />

Erwartungen), als auch als Orte der freien Entwicklung von Jugendlichen erlebt werden, etwa als<br />

Raum der Entlastung, der Entschleunigung und der Orientierung (vgl. auch Abs. 5.3).<br />

– Pluralisierungsantinomie: Zudem wird Jugendlichen vor dem Hintergrund gewachsener Freiheiten eine<br />

Planung, ein Abwägen, Kalkulieren und Entscheiden abverlangt, dessen Aufwand jedoch nicht zur verlässlichen<br />

Zielerreichung führen muss, er reduziert eher nur eine strukturell geförderte Unsicherheit in der jugendlichen<br />

Biografie, die dadurch jedoch nicht aufgehoben wird (ebd., S. 80). Wer frei wählen und entscheiden<br />

kann, erschließt sich eine Vielzahl an Optionen, erfährt aber auch Formen der Regulierung und<br />

Standardisierung (z. B. in der Schule) und kann der Gefahr unterliegen, Optionen nicht als Gewinn für den<br />

eigenen Lebensweg nutzen zu können, sondern unter ihnen zu leiden, weil sie zu Orientierungslosigkeit,<br />

Entscheidungsschwierigkeiten, Überforderungen und Ängsten führen – der gekonnte Umgang mit der Steigerung<br />

von Optionen hängt wesentlich von den individuellen und sozialen Ressourcen, mithin von der Beschaffenheit<br />

der Lebenslage Jugend und den je individuellen Bewältigungsmustern Jugendlicher ab (vgl.<br />

auch Kap. 1 und 2).<br />

In der Expertise zu diesem Bericht „Jugend und Schule – Konstruktionen und Bilder von Jugend in Schule und<br />

Schulforschung“ (Hagedorn 2017) wird in der Zusammenschau aktueller Forschungsergebnisse zwar auf die<br />

sich allgemein verstärkende Funktion der Schule im jugendlichen Leben verwiesen, aber der Blick auch deutlich<br />

auf die unterschiedlichen Auswirkungen für Jugendliche entsprechend ihrer sozialen Herkunft gelenkt: Jugendliche<br />

in Gymnasien aus den oberen sozialen Schichten erleben sich demnach in einer guten Ausgangslage mit<br />

Blick auf die Erwachsenen- und Berufswelt (ebd.). Sie richten sich auch leichter an der „Lebensform Schüler“<br />

aus und bringen den schulischen Imperativ schon milieuspezifisch mit und in die Schulkultur ein (ebd.).<br />

Für diese Jugendlichen ist die Ausweitung des schulischen Feldes in das jugendliche Leben eher mit der Gefahr<br />

einer Überanpassung an schulspezifische Habitusforderungen verbunden, die ihnen Einschränkungen jugendlich-kultureller<br />

Freisetzungsprozesse beschert (ebd.). Jugendliche in schwierigen, sie benachteiligenden Lebensund<br />

Bildungssituationen erleben hingegen oft in einem selektiven Bildungssystem sehr früh Ausgrenzung und<br />

Nichtanerkennung. Bei diesen von der Schule abgewerteten, enttäuschten und „schulversagenden“ Jugendlichen<br />

kann es dann vorkommen, dass sie andere, schulferne soziale Stützsysteme suchen, um ihre Misserfolgs- und<br />

Versagenserfahrungen zu kompensieren. Schule erscheint ihnen als Ort der Unterwerfung und Disziplinierung,<br />

der – unter Zurückstellung von Körperlichkeit und Expressivität – ihre jugendkulturellen Praktiken als Störung<br />

schulischer Abläufe ahndet (Hagedorn 2017).<br />

72 Auch wenn durch die Schulzeitverkürzung durch das achtjährige Gymnasium (G8) die Schulzeit scheinbar verkürzt worden ist, muss doch<br />

gleichzeitig konstatiert werden, dass für alle Schülerinnen und Schüler eine mindestens zehnjährige Schulzeit zur Regel geworden ist und inzwischen<br />

deutlich mehr junge Menschen die allgemeine Hochschulreife anstreben, sodass insgesamt die Zeit, die Jugendliche in der Schule<br />

verbringen, zugenommen hat.

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