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Kinderund

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Drucksache 18/11050 – 332 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode<br />

5.1.2 Spannungsfelder für Jugendliche in der Schule<br />

Jugendliche positionieren sich auch im Handlungsraum Schule im Hinblick auf jugendkulturelle Stile und Praktiken<br />

(vgl. Abs. 3.5 und Abs. 4.2), gestalten dort ihre Beziehungen in unterschiedlicher Nähe, Dichte und sozialer<br />

Verlässlichkeit, steigern das gegenwärtige Erleben und die expansiven Selbsterfahrungen, ohne jedoch die<br />

Zukunftsorientierung, die Kontrolle des Lebensweges und Verantwortung für Lebensentscheidungen aufgeben<br />

zu dürfen. Dies lässt sich als „Zivilisationsantinomie“ bezeichnen (Helsper 2012, S. 82). Diese „kann mitunter<br />

zu Zerreißproben im jugendlichen Selbst führen. Und diese Spannung – die auch als Ambivalenz der Selbstrationalisierung<br />

und der Freisetzung zivilisatorischer Nähe- und Intensitätsansprüche zu fassen ist – wird zusätzlich<br />

dadurch gesteigert, dass sich Schule und Peerkultur im Raum der Schule durchdringen. Heranwachsende sind<br />

damit nicht nur als Schülerinnen und Schüler in der Schule anwesend, sondern zugleich auch in der nicht schulkompatiblen<br />

Form erotisch-sinnlicher, expressiv-ästhetischer und jugendkulturell-erlebnishafter Ansprüche und<br />

jugendkultureller Ausdrucksformen. Das schulische Handeln der Schülerinnen und Schüler findet somit auf<br />

zwei Bühnen, vor einem zweigeteilten Publikum statt. Es muss somit peer- und jugendkulturverträglich und<br />

zugleich unterrichtstauglich sein, und daraus resultieren Inkompatibilitäten und Balancierungsprobleme“ (ebd.,<br />

S. 84f.).<br />

Schulen ermöglichen z. B. durch die Förderung individueller Bildungsprozesse und Leistungen Erfahrungen, die<br />

eine Grundlage frei gestaltbarer, individuell verantworteter Lebenswege sein können. Gleichzeitig tun sie dies<br />

aber mittels einer Standardisierung von Lernzielen und Curricula, sie vereinheitlichen ihren Blick auf Jugendliche<br />

dann wiederum, indem relativ homogene, am Gruppendurchschnitt orientierte Erwartungen formuliert werden.<br />

Rationalisierung ist das Kernmerkmal des schulischen Geschehens, denn in der Schule wird Disziplin erwartet,<br />

kontrolliertes, geplantes und zielorientiertes Handeln gefördert, für das es organisierte zeitliche Abläufe<br />

und Angebotsformen gibt. Gleichzeitig eröffnen Schulen immer auch darüber hinausreichende Lern- und Erfahrungsräume,<br />

etwa über die Ermöglichung unterschiedlicher sozialer Beziehungen als auch z. B. über Angebote,<br />

die nicht nur unterrichtsbezogen sind.<br />

Die Zivilisationsantinomie, das sei angesichts der Betonung des Verhältnisses von Schule und Jugend (und der<br />

Vergewisserung über Formen ganztägig organisierter Schule im Jugendalter) besonders hervorgehoben, wird<br />

von Schulen forciert, indem „sie die Jugendlichen in das Spannungsfeld formalisierter, tendenziell entpersönlichter<br />

Beziehungen einerseits und der emotionalisierten Peerbeziehungen und -freundschaften andererseits<br />

einrückt. Damit agieren Jugendliche innerhalb der Schule in zwei unterschiedlichen Beziehungslogiken: Im<br />

Modus unpersönlicher, schulisch formalisierter, spezifischer und im Modus ‚reiner‘ Beziehungen der diffusen<br />

Peervergemeinschaftung“ (Helsper 2012, S. 88).<br />

Das lässt Schule auch als „ambivalenten Jugendraum“ erscheinen, wie Helsper es ausdrückt (2015, S. 131), der<br />

Jugendlichen ausgeprägte Formen der Bewältigung, der Orientierung in und zwischen der Schul- und Jugendwelt<br />

sowie der Auflösung möglicher Spannungsfelder darin abverlangt. Die erhöhte Bedeutung der Schule und<br />

die Ausweitung der Schulzeit verstärken diese Spannungen, Ganztagsschulen potenzieren sie sogar konzeptionell:<br />

„Für einen größer werdenden Teil der Heranwachsenden wandern Teile familiärer Betreuung und Versorgung<br />

in das Feld der Schule aus. Die emotional-diffusen Sorge- und Unterstützungsleistungen werden zwar<br />

auch weiterhin in den affektiv-diffusen und nicht substituierbaren generationalen Familienbeziehungen erbracht<br />

(…). Aber die Schule wird als Beziehungsraum bedeutsamer und zugleich intern ambivalenter: Die Jugendlichen<br />

müssen sich stärker in einen schulischen Raum involvieren, der einerseits durch die wachsende Bedeutung<br />

von Leistung und Abschlüssen und einer Leistungsrationalisierung des eigenen Selbst gekennzeichnet ist, der<br />

aber andererseits auch verstärkt emotionale Sorgeleistungen für die Jugendlichen zu erbringen hat. Damit<br />

durchkreuzen sich in der Schule verstärkt universalistisch-distanzierte Leistungsrationalität und eine diffusemotionale<br />

Sorgehaltung im schulischen Beziehungsgefüge“ (ebd., S. 133).<br />

5.1.3 Erweiterte Modalitäten der Ganztagsschulen zur Erfüllung schulischer Funktionen<br />

Jugendliche werden in Schulen zumeist in ihrer Rolle als Schülerin oder Schüler angesprochen, und eben nicht<br />

als Jugendliche. Auch wenn die Schule der zentrale institutionelle Rahmen für Jugendliche ist, der eine beträchtliche<br />

Zeit dieses biografischen Abschnitts prägt und konturiert, und der für sich Erwartungen sowie spezifische<br />

Ordnungen des Jugendalters reklamiert, bleiben wichtige Betrachtungen der jugendlichen Biografie und ihrer<br />

Alltagswelten eher außen vor, als dass sie offensiv Teil des Schulalltags werden.

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