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Kinderund

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Drucksache 18/11050 – 98 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode<br />

Im weitesten Sinn geht es in Bezug auf die Verselbstständigung um die Frage, wie der Übergang ins Erwachsenenalter<br />

strukturiert ist und wie sich das persönliche Leben „unabhängig“ gestalten kann. Letztlich findet diese<br />

Entwicklung auch Ausdruck in Jugendtheorien, in denen z. B. versucht wird, die Spannbreite zwischen einer<br />

Verbleibs- und einer Übergangsorientierung im Jugendalter auszuloten (vgl. Reinders 2006 sowie Kap. 3). Das<br />

Jugendalter wird hier nicht als ein linearer Verselbstständigungsprozess aus den familialen Beziehungen ins<br />

Erwachsenenalter, sondern vielmehr als ein Konglomerat von Übergangskonstellationen und Relevanzsetzungen<br />

mit vielen Gleich- und Ungleichzeitigkeiten gesehen, in denen unterschiedliche Sphären des persönlichen<br />

Lebens miteinander verknüpft sind. Der Auszug aus dem Elternhaus, die Gründung eines eigenen Haushalts<br />

oder die eigene Elternschaft – als eher traditionale Aspekte der Verselbstständigung – geben dabei heute<br />

nur graduell Auskunft über den Übergang ins Erwachsenenalter.<br />

Diese Konstellationen verweisen auch auf die dritte Kernherausforderung: Qualifizierung und Verselbstständigung<br />

im Jugendalter sind mit sozialen Prozessen der „Selbstpositionierung“ verbunden und sollen eine Vermittlung<br />

von Individuation und sozialen Zugehörigkeiten leisten. Jugendliche werden in ihrer Persönlichkeit, in<br />

ihren Werthaltungen und ihrer sozialen und körperlichen Entwicklung herausgefordert. Sie sind mit vielen sozialen<br />

und psychisch-physischen Dynamiken konfrontiert, die im öffentlichen Diskurs mit vielen Aufladungen<br />

und Zuschreibungen einhergehen. Jugendliche sind in ihrem persönlichen und politischen Leben gefordert, sich<br />

selbst neu in ein Verhältnis zu den Anderen und Gruppen sowie allgemeinen Positionen zu setzen. So wird das<br />

Jugendalter in unserer Gesellschaft eng mit Prozessen der Selbstpositionierung in persönlichen, politischen und<br />

sozialen Beziehungen verbunden. Dabei sind es weniger definierte statuswechsel-prägende Initiationsriten, die<br />

das Jugendalter rahmen. Vielmehr ist Jugend durch spezifische biografische Anfangskonstellationen z. B. in<br />

Bezug auf die sexuelle Orientierung, persönliche Beziehungen, politische Teilhabe etc. gekennzeichnet, die ein<br />

Ausbalancieren der eigenen Positionierungen im persönlichen Leben mit sozialen Zuordnungen und Einsichten<br />

in Notwendigkeiten erfordern. Jugendkulturelle Ausdrucksformen werden dabei ebenso als eigenständige Positionierungen<br />

generationaler Selbstverortung in Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Erwartungen gesehen<br />

wie Zusammenhänge des Ehrenamts oder der politischen Teilhabe. Die Ermöglichungsräume und -zeiten in<br />

Selbstpositionierungsprozessen sind damit zentraler Bestandteil der Formulierung eigener Zugänge von Jugendlichen<br />

in der generationalen Ordnung des Sozialen. Es wird erwartet, dass Jugendliche eine Integritätsbalance<br />

(vgl. Keupp u. a. 2002) zwischen Individuation und den Optionen sozialer Zugehörigkeit leben.<br />

Darüber hinaus stellt sich die Frage, wie diese Kernherausforderungen des Jugendalters – Qualifizierung, Verselbstständigung,<br />

Selbstpositionierung – in der gegenwärtigen generationalen sozialen Konstellation gebunden<br />

sind und als eigenständige Lebensphase ermöglicht werden: Welche zeit-räumlichen Ordnungen im Lebensverlauf<br />

gestaltet der Integrationsmodus Jugend? Mit welchen sozialstrukturellen Unterschieden wird er derzeit wie<br />

verbunden und welche werden reproduziert? Denn die entgrenzte Jugend der Gegenwart ist als eine hybride<br />

soziale Gestalt in einem relativ offenen Lebensabschnitt anzusehen, die sowohl sehr unterschiedliche Lebenskonstellationen<br />

für Jugendliche und junge Erwachsene umfasst als auch durch große soziale Unterschiede und<br />

Ungleichheitsverhältnisse geprägt ist.<br />

Zwar wurde in der Geschichte und Gegenwart immer wieder versucht, die Kernherausforderungen des Jugendalters<br />

in einem relativ homogenen sozial ausgewogenen Bild zu fassen. Der Begriff des Moratoriums scheint<br />

dafür ein Paradebeispiel zu sein (vgl. oben). Doch die Rede vom „Moratorium“ stellt mehr ein soziales Versprechen<br />

an die Jugendlichen des 20. Jahrhunderts – im Sinne eines soziales Handlungs- und Experimentierraums<br />

für Jugendliche – dar, als eine empirische fassbare und sozial verlässliche sowie gerechte Struktur für alle Jugendlichen<br />

in einer Gesellschaft des 21. Jahrhunderts. Wenn, wie einführend anhand der Jugendbilder und die<br />

sie kennzeichnenden Konstrukte gezeigt, die Kernherausforderungen des Jugendalters den Jugendalltag umfassender<br />

strukturieren als je zuvor, dann sind junge Menschen heute in besonderem Maße darauf angewiesen, dass<br />

das institutionelle Gefüge des Aufwachsens die Gestaltung und Bearbeitung dieser Anforderungen an Jugendliche<br />

und junge Erwachsene sozial gerecht ermöglicht.<br />

Zentral für das Jugendalter im institutionellen Gefüge des Aufwachsens in den vergangenen fünfzig Jahren sind,<br />

wie bislang gezeigt, Prozesse der räumlichen und zeitlichen Entgrenzung, der weiteren qualifikationsbezogenen<br />

Institutionalisierung sowie ein Wettbewerbs- und Selbstoptimierungsdruck, der über alle Lebensbereiche hinweg<br />

bestehende Qualifikations- und erwerbarbeitsbezogene Erwartungen auf andere Alltagswelten von Jugendlichen,<br />

wie Familien, Freizeitwelten, Jugendarbeit, Betriebe und Soziale Dienste, überträgt.<br />

Wenn in diesem Jugendbericht danach gefragt wird, wie sich der Integrationsmodus Jugend empirisch ausgestaltet,<br />

wird entsprechend nicht unterstellt, dass alle Jugendlichen eine vergleichbar getaktete Jugend sowie sozial

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