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Kinderund

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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 111 – Drucksache 18/11050<br />

Begleitet wird die auf diese Weise wahrgenommene Form der Ausbreitung schulischen Lernens auf Kosten der<br />

eigenen Freiräume durch eine Pädagogisierung und soziale Kontrolle des Alltags junger Menschen. So liefert<br />

z. B. der 14. Kinder- und Jugendbericht eine Reihe von Hinweisen für eine in den letzten Jahrzehnten verstärkt<br />

erfolgte Übernahme öffentlicher Verantwortung für das Aufwachsen (vgl. Deutscher Bundestag 2013). Der<br />

Ausbau und die Ausdifferenzierung außerschulischer Unterstützungs- und Bildungsangebote sowie auf sehr<br />

unterschiedliche Problemlagen bezogene präventive Angebote komplettieren diese Entwicklungen. Dass zunehmend<br />

auch außerschulische Lern- und Erfahrungsräume der Logik zertifizierter Qualifikationsnachweise<br />

unterworfen werden (sollen) sowie bildungsbezogene Aktivitäten in steigendem Maße das Freizeitleben junger<br />

Menschen prägen (vgl. Abs. 2.2.2), sind nur Mosaiksteine, die in dieses Gesamtbild passen.<br />

Während also auf der einen Seite die Bewältigung der Kernherausforderungen des Jugendalters zeit- und ressourcenaufwendig<br />

sind, scheinen auf der anderen Seite die dafür notwendigen Handlungsspielräume für junge<br />

Menschen zu schrumpfen – mit der Folge, dass es mindestens subjektiv für viele junge Menschen zu einem<br />

Charakteristikum der Gegenwart geworden ist, weder ausreichend Zeit für sich selbst noch ausreichend Gestaltungsräume<br />

zur Verfügung zu haben. In vielen Fällen handelt es sich dabei nicht nur um eine individuelle<br />

Wahrnehmung, sondern um unabweisbare Bedingungen des Jugendalters. Weil typischerweise Jugendlichen<br />

und jungen Erwachsenen häufig die Ressourcen fehlen, sich Auszeiten zu nehmen, wurde die Forderung nach<br />

Freiräumen und das Ringen um Freiräume in ihren verschiedenen Varianten zu einem jugendpolitischen Kristallisationspunkt.<br />

Dabei wird unter „Freiräumen“ jeweils sehr Unterschiedliches verstanden und Forderungen nach<br />

Gestaltungsräumen kommen nicht ohne immanente Ambivalenzen und mitunter Paradoxien aus.<br />

Die Vielfalt der Bedeutungen von Freiraum ergibt sich vor allem aus den unterschiedlichen Lebenslagen junger<br />

Menschen. Mit ihr hängt zusammen, dass junge Menschen sehr anders geartete Vorstellungen darüber haben<br />

können, was für sie Freiräume sind bzw. sein könnten. Was für den einen als eine erstrebenswerte Idee von<br />

Freiraum erscheint, kann für den anderen Ausdruck der Fremdbestimmung sein. So kann die Forderung nach<br />

Freiräumen für junge Menschen eben auch bedeuten, Räume zur Verfügung zu haben, in denen man sich nicht<br />

schon der kaum kalkulierbaren Verantwortung für die nächsten Jahre stellen muss und in denen man – von solchen<br />

Zwängen mindestens zeitweise entbunden – unbekümmert handeln kann.<br />

Zu den Ambivalenzen der Forderung nach Freiräumen gehört, dass dabei gleichzeitig sowohl auf die gesellschaftlich-funktionale<br />

Zuschreibungen des Jugendalters im Sinne der Notwendigkeit von Erprobungs- und Gestaltungsräumen<br />

rekurriert wird als auch die Nichtplan- und Verfügbarkeit eben dieser Gestaltungsräume eingefordert<br />

wird. Zudem ist schon die Rede von der Optimierung, von Entschleunigung und des intensivierten Ausstiegs<br />

nicht nur für das Jugendalter paradox. Auch die Rolle von digitalen Medien ist durchaus ambivalent, lassen<br />

sich durch ihre Nutzung doch Gegenwelten produzieren, die Erfordernisse des Alltags mit Freiraumgewinnen<br />

effizienter organisieren – aber so auch die vorher „freien“ Zeiten und Räume nutzen und verzwecken. Dies<br />

ändert aber nichts an der gegenwärtigen Attraktivität der Forderung nach mehr Freiräumen und dem Umstand,<br />

dass alles, was mit Freiräumen in Verbindung steht, vielfältige positive Resonanz und Gegenbewegungen erzeugt<br />

– bis hin zu „slow food“, den unterschiedlichsten Varianten um Entschleunigung und der Eroberung eigener<br />

Gestaltungsspielräume, und sei es nur im privaten Raum (vgl. Wehr 2016). Im Alltag junger Menschen<br />

findet diese Attraktivität in verschiedener Form ihren Ausdruck (vgl. dazu auch Kap. 3). Ohne Anspruch auf<br />

Vollständigkeit sei ein kleines Spektrum von Manifestationen genannt:<br />

– Es ist ein Charakteristikum erfolgreicher Popkultur, dass in ihren Produkten das Lebensgefühl junger Menschen<br />

seinen Ausdruck findet. In dem hier anstehenden Zusammenhang kann exemplarisch auf den Song<br />

„Lass’ uns gehn“ der Band Revolverheld verwiesen werden:<br />

„Hinter Hamburg, Berlin oder Köln / Hör’n die Menschen auf Fragen zu stellen /Hör’n wir endlich mal<br />

wieder / Das Meer und die Wellen / Lass uns gehen, lass uns gehen, lass uns gehen.<br />

Die Stadt frisst die Ruhe / Mit flackernden Lichtern / Schluckt Tage und Nächte in sich hinein / Gehetzte<br />

Gesichter in der drängelnden Masse / Jeder muss überall schnell sein.<br />

Zwischen den Zeilen hab ich gelesen / Dass wir beide weg von hier wollen / Wir stecken hier fest / Verschüttet<br />

im Regen / Und träumen vom Sommer in Schweden.<br />

Lass uns hier raus / Hinter Hamburg, Berlin oder Köln / Hört der Regen auf Straßen zu füllen / Können wir<br />

endlich mal wieder / Entscheidungen fällen.“<br />

– Jenseits derartiger popkultureller Sehnsüchte der Loslösung von den üblichen Handlungszwängen und der<br />

Suche nach Freiräumen wird das Ringen um Freiräume junger Menschen vor allem innerhalb des institutionellen<br />

Gefüges des Aufwachsens manifest. In Bezug auf die Familie ist es zunächst der Wunsch, einen

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