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Kinderund

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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 253 – Drucksache 18/11050<br />

rinnen und Künstler wird. Insbesondere diese statischen Raumpraktiken von Jugendlichen können nicht nur ein<br />

Konfliktpotenzial zwischen Jugendlichen und Erwachsenen bergen, sondern jugendlichen Gruppen geht es dabei<br />

immer auch um die Besetzung und Vereinnahmung dieser Orte und um die Abgrenzung zu anderen Gruppen.<br />

Eckert (2012) weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Konflikte zwischen Jugendlichen selbst<br />

immer auch Konflikte um Räume sein können, die von bestimmten Gruppen besetzt sind und von anderen<br />

Gruppen (rück)erobert werden wollen. Gleichzeitig können bestimmte Räume auch bewusst gemieden werden,<br />

etwa dann, wenn sich (prekäre) Cliquen aus dem Jugendzentrum oder pädagogisch betreuten öffentlichen Räumen<br />

(mobile Jugendarbeit) zurückziehen oder diese Räume gar nicht erst in Anspruch nehmen, weil sie sich<br />

dort zu sehr kontrolliert fühlen (Eckert 2012, S. 14).<br />

Ein viertes Muster der Aneignungspraktiken Jugendlicher verweist auf die Nutzung öffentlicher Räume in Orientierung<br />

an den vorgegebenen Funktionszuschreibungen. Hier geht es weniger um die peerkulturelle Umdeutung<br />

vordefinierter Handlungsmuster, sondern vielmehr um die Anpassung an diese. Der Besuch vorstrukturierter<br />

Räume, wie Cafés, Kneipen, Eisdielen oder Biergärten steht dabei im Zeichen der Erprobung von Rollen und<br />

Verhaltensrepertoires Erwachsener und bedeutet für Jugendliche gleichzeitig eine Demonstration von Selbstständigkeit<br />

und Verantwortungsübernahme (Wehmeyer 2013; Böhnisch/Funk 1989; Grunert/Deinert 2010).<br />

Diese unterschiedlichen Muster der Raumaneignung sind nicht auf bestimmte Jugendliche beschränkt, können<br />

auch parallel vorkommen und sich mit zunehmendem Alter der Jugendlichen verändern. So spielen transitorische<br />

Raumpraktiken und Hangout-Zonen vor allem für jüngere Jugendliche eine Rolle, während die jugendszenespezifischen<br />

Aneignungsformen sowie die stärker funktionsangepasste Nutzung vorstrukturierter Räume dann<br />

eher für ältere Jugendliche bedeutsam sind. Gleichzeitig ist die Ausbildung unterschiedlicher Aneignungspraktiken<br />

abhängig von den Bedingungen und Möglichkeiten, die sich für Jugendliche in ihrem Wohnumfeld und<br />

der Wohnregion ergeben. So kann sich in schrumpfenden ländlichen Regionen aufgrund der Ausdünnung von<br />

Peergelegenheiten eine Verschiebung ehemals stärker statischer Raumpraktiken hin zu dynamischen, jedoch<br />

ressourcenabhängigen mobilitätsbezogenen Praktiken ergeben, während Jugendliche in sozial benachteiligten<br />

Wohnquartieren aufgrund geringerer Mobilitätsressourcen eher auf Hangout-Zonen zurückgreifen und damit<br />

gleichzeitig stärker in Konfliktsituationen geraten und Verdrängungserfahrungen ausgesetzt sind. Gerade das<br />

Beispiel der zunehmenden Attraktivität von Einkaufszentren und Shoppingzonen zeigt jedoch, dass Jugendliche<br />

durchaus dazu in der Lage sind, sich aktiv öffentliche Räume zu erschließen und eigenständig neue Nischen zu<br />

schaffen. Dabei geht es ihnen weniger „um den Konsum von Dingen, sondern um eine Aneignung von Räumen<br />

und Bildern in einem stark konsumorientierten Kontext“ (Wellgraf 2012, S. 46).<br />

Virtuelle Räume als Teil des öffentlichen Raums: Jugendliche bewegen sich jedoch nicht nur in realen öffentlichen<br />

Räumen, sondern handeln selbstverständlich und zeitgleich sowohl in realen als auch in virtuellen Räumen<br />

(vgl. Kap. 4), das Virtuelle ist damit für sie auch höchst „real“ und bedeutsam. Die Rede ist auch von virealen<br />

(Ketter 2011) oder hybriden On/Offline-Räumen (Hugger 2009; Tillmann 2014), die vernetzt, sich einander<br />

überschneidend, bewegt, im geografischen Sinn aber eben nicht mehr verortbar sind.<br />

Die Online-Räume selbst liefern mit ihren unterschiedlichen Kommunikationsarchitekturen, Eingabemasken<br />

und je spezifischen sozialen Bedingungskonstellationen unterschiedliche Anreize und Möglichkeiten für Jugendliche,<br />

sich zu orientieren, individuell oder gemeinsam zu positionieren und zu vernetzen (vgl. Kap. 4). Die<br />

Beteiligung an den neuen Öffentlichkeiten ist eng mit den geografisch lokalisierbaren Sozialräumen verwoben<br />

(vgl. Wagner/Gebel 2014, S. 180f.), allerdings nicht zwingend, denn Online-Räume eröffnen auch Möglichkeiten<br />

der Orientierung und Vernetzung über das sozialräumliche Nahfeld hinaus, werden also auch dazu verwendet,<br />

Defizite aus dem realweltlichen Umfeld zu kompensieren, bereits existierende soziale Netzwerk zu stabilisieren<br />

und zu erweitern (Piotrowski 2006; Tillmann 2006; Boyd 2011) und sich neue Anerkennungskontexte<br />

und Zugehörigkeiten zu schaffen (Tillmann 2006; Hugger 2009).<br />

Weitere Besonderheiten der Online-Räume zeigen sich darin, dass diese Räumen wenig verregelt sind, die<br />

Kommunikation kaum sanktioniert wird und Jugendliche mit weniger Verbindlichkeiten konfrontiert werden.<br />

Dies wird im öffentlichen Diskurs eher negativ gesehen, aber gerade darin ist aber auch die Faszination von<br />

Online-Räumen für Jugendliche begründet. Als Online-Ergänzung zu nicht-institutionalisierten öffentlichen<br />

Räumen bieten ihnen Online-Räume (gesellige) Möglichkeitsräume der Selbstinszenierung, der Verselbstständigung,<br />

des Ausprobierens wie auch der Grenzüberschreitung. Der Grad an sozialer Kontrolle (z. B. durch<br />

Nachbarschaft und Verwandtschaftsnetzwerke) und das Maß an Regeln sind – ähnlich dem in nichtinstitutionalisierten<br />

öffentlichen Räumen – äußerst gering. Im Unterschied zu Offline-Räumen stellt sich das<br />

Internet dann noch zusätzlich entgrenzt dar, die Räume im Internet stehen den Jugendlichen also prinzipiell

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