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Kinderund

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Drucksache 18/11050 – 428 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode<br />

gen und Barrieren abgebaut werden, damit jeweils individuell die sozialen Handlungsspielräume erweitert werden<br />

können. „Handlungsbefähigung ist demnach unmittelbar an die in den Lebensverhältnissen und sozialen<br />

Lebenslagen vorherrschenden Handlungsbewertungen und materiellen Einschränkungen oder Möglichkeiten<br />

gebunden“ (Grundmann 2008, S. 137).<br />

Soziale Handlungsfähigkeit von Jugendlichen und jungen Erwachsenen hängt somit zuerst von den individuellen<br />

Wirksamkeitserfahrungen in der alltäglichen Lebensbewältigung ab, die in der Jugend den jungen Menschen<br />

in ihrem persönlichen Leben ermöglicht werden (vgl. Böhnisch/Schröer 2013). Dabei wird im Anschluss an den<br />

„capability approach“ nicht von einem Normallebensentwurf und einer allgemeinen Vielfalt der Lebensführung<br />

ausgegangen, sondern es werden gerade auch die Abweichungen von der herrschenden gesellschaftlichen Normalität<br />

in den Blick genommen (vgl. Sen 1999). Hiervon ausgehend wird kritisiert, dass die Feststellungsformen<br />

zur Bewilligung von Leistungen und Angeboten der sozialen Dienste nach wie vor allzu häufig an einem sozial<br />

konformen Durchschnitt der Bevölkerung ausgerichtet seien und daher die individuell abweichenden Lebensverhältnisse<br />

und Muster der Lebensführung nicht in ihren (verwehrten) sozialen Ressourcen und Barrieren,<br />

sondern als Defizite gesehen werden.<br />

Diese Perspektive hat unmittelbare Folgen für den Umgang mit sozialer Benachteiligung in der Sozialgesetzgebung<br />

und den sozialen Diensten, in denen es nicht mehr darum gehen kann, die Leistungen allein entlang personenbezogener<br />

Normabweichungen, Defizite, Behinderungen oder Beeinträchtigungen zu entwerfen. Es gilt<br />

vielmehr danach zu fragen, welche prekären Lebenskonstellationen die Handlungsspielräume im persönlichen<br />

Leben Jugendlicher wie einschränken oder sie prekär werden lassen. Diese Perspektive korrespondiert mit einem<br />

Konzept von sozialer Benachteiligung, wie es auch der UN-Konvention für Menschen mit Behinderungen<br />

und Beeinträchtigungen vom 13. Dezember 2006 zugrunde liegt. Eine Feststellung von sozialer Benachteiligung<br />

bedarf also zuerst einer Analyse der sozialen Ermöglichungskonstellationen des Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen.<br />

Problemorientierte Kategorisierungen, z. B. in Hilfeplanprozessen zum persönlichen Leben junger<br />

Menschen, legitimieren sich demnach gerechtigkeitspolitisch nur darüber, wenn unmittelbar deutlich wird, wie<br />

dadurch die sozialen Handlungsspielräume Jugendlicher und junger Erwachsener erweitert werden.<br />

Wie die sozialen Dienste Qualifizierungs-, Verselbstständigungs- und Selbstpositionierungsprozesse begleiten<br />

und unterstützen, welche Rechte die Jugendlichen und jungen Erwachsenen dabei haben, ist für die jungen<br />

Menschen nicht immer transparent und nicht ohne Brüche und Widersprüche. Entsprechend gilt es zu klären,<br />

wie Jugendliche und junge Erwachsene in prekären Lebenskonstellationen jeweils individuell zu ihrem Recht<br />

kommen, gleichberechtigt Jugend zu erfahren. Wenn von prekären Lebenskonstellationen gesprochen wird,<br />

dann sind soziale Konstellationen im persönlichen Leben Jugendlicher gemeint, durch die die gleichberechtigte<br />

soziale Teilhabe oder soziale Handlungsfähigkeit einzelner Jugendlicher beeinträchtigt oder verhindert wird.<br />

Diese Konstellationen können häufig nicht von den jungen Menschen mit den allgemein zur Verfügung stehenden<br />

pädagogischen, sozialen und persönlichen Ressourcen sozial ausgeglichen oder individuell bewältigt werden.<br />

Der Begriff „prekäre Lebenskonstellationen“ verweist somit darauf, dass soziale Handlungsspielräume und<br />

Ressourcen nur begrenzt oder gar nicht vorhanden sind oder dass Barrieren bzw. Diskriminierungen entsprechende<br />

Zugänge verhindern. Es sind soziale Konstellationen, die sich nur selten als eine individuell abgrenzbare<br />

Krise begreifen lassen. Vielmehr muss davon ausgegangen werden, dass in prekären Lebenskonstellationen<br />

ebenfalls verschiedene Benachteiligungen, Barrieren und Diskriminierungen gleichzeitig wirken und sich gegenseitig<br />

verstärken können, sodass es hier auch darum geht, die sich gegenseitig verstärkenden krisenhaften<br />

Erfahrungen und Ereignisse als „Überkreuzungen“ (intersections) in den Blick zu nehmen (und nicht additiv zu<br />

betrachten).<br />

Die mittlerweile breite Diskussion um die Schnittstellen und das Bemühen um kooperative Antworten zwischen<br />

verschiedenen Unterstützungs- und Hilfesystemen lässt sich vor diesem Hintergrund als ein Indikator verstehen,<br />

diesen komplexen Bedarfslagen gerecht werden zu wollen. Prekäre Lebenskonstellationen lassen sich darum<br />

auch nur schwer in eine abschließende Systematik bringen. Aus individueller Sicht stehen das Durchleben, der<br />

Umgang mit Diskriminierung und die Formen der Verarbeitung im Mittelpunkt sowie die sich jeweils höchst<br />

unterschiedlich gestaltenden Möglichkeiten, Ressourcen und Barrieren.<br />

Im Folgenden werden beispielhaft institutionelle Zugänge sozialer Dienste beschrieben, die jeweils unterschiedlich<br />

auf prekäre Lebenskonstellationen und Lebenslagen – berufliche Qualifizierung, Behinderung, Flucht – von<br />

Jugendlichen und jungen Erwachsenen reagieren: Zunächst wird – erstens – das sogenannte Übergangssystem<br />

thematisiert, in dem vor allem dem institutionellen Ausschluss aus dem Schul- und beruflichen Bildungssystem

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