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Kinderund

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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 87 – Drucksache 18/11050<br />

lisierten Gefüge des Aufwachsens diese Erwartungen erfüllen können (vgl. Abs. 1.2.5), ist für die jungen Menschen<br />

heute lebenslaufentscheidend und macht häufig den sozialen Unterschied aus. Darum ist es für Jugendliche<br />

und junge Erwachsene gegenwärtig wichtig zu wissen, ob sie ein generationales und individuelles Recht<br />

darauf haben, dass Jugend als eigenständige Lebensphase ermöglicht wird und nicht nur ein soziales Versprechen<br />

bleibt.<br />

Die Konstruktion der Jugend als eigenständige Lebensphase unterliegt dabei als sozial- und ordnungspolitisches<br />

Projekt historischen Kontinuitäten, die im Folgenden in knapper Form und bezogen auf einige zentrale Entwicklungen<br />

nachgezeichnet werden sollen. Ausschnittweise soll dabei der Blick auf die entstehenden sozial- und<br />

jugendpolitischen Diskussionen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und zu Beginn des 20. Jahrhunderts<br />

gerichtet werden. So soll aufgezeigt werden, wie Jugend zum Gegenstand sozialpolitischer Auseinandersetzungen<br />

wurde und wie sich historisch ein protektionistisches Verständnis von Jugend politisch durchgesetzt hat.<br />

Sozialgeschichtliche Perspektiven auf Jugend(politik) sind dabei in der Jugendforschung gegenwärtig wenig<br />

präsent. Dies gilt besonders für die politische Instrumentalisierung von Jugend in unterschiedlichen politischen<br />

Konstellationen des 19. und 20. Jahrhunderts. Die Geschichte der politischen und sozialen Unterdrückung, Ausgrenzung<br />

sowie Tötung von Jugendlichen in den unterschiedlichen politischen Regimen der vergangenen zwei<br />

Jahrhunderte in Deutschland ist erst in Ansätzen geschrieben. Insbesondere die Geschichte von Jugend im Holocaust<br />

und im Exil gilt es weiter zu erforschen.<br />

Insgesamt beginnt die sozial- und jugendpolitische Diskussion um die Jugendphase mit der nationalstaatlichen<br />

Durchsetzung der industriellen Moderne (vgl. Peukert 1986; Dudek 1990). Jugend wurde, folgt man der Jugendforschung,<br />

zur „selben Zeit erfunden wie die Dampfmaschine“ (vgl. Herrmann 1991, S. 203). So war im 19.<br />

Jahrhundert Jugend keine eigenständige Lebensphase, sondern im Unterschied zur Kindheit in erster Linie<br />

durch Arbeit geprägt: Ohne „Zweifel war es der Bezug zur Arbeit, der im 19. Jahrhundert den Unterschied zwischen<br />

Kindheit und Jugend bestimmte. Die Kindheit wurde von Arbeit mehr und mehr befreit; die Jugend war<br />

ihr gewidmet. In Bezug auf die Jugend trat die Schule in Konkurrenz zur Fabrik. (…) Waren sie einmal dreizehn,<br />

wurde für sie (…) die Arbeit zur Norm. Mit dem 18. Lebensjahr waren sie Erwachsene, die nur Pflichten,<br />

aber keine Rechte hatten. Die Werkstatt, die Fabrik, die Baustelle wurden so zu Räumen der Jugend, wenigstens<br />

zu Stätten der Arbeiterjugend. Der ‚Feierabend in der Fabrik’, zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein beliebtes<br />

Ansichtskartenmotiv, zeigt vor den Toren der Textilfabriken, an der Seite von Frauen, sowie vor Glashütten<br />

oder Hochöfen, unter lauter Männern, diese Gruppe von eigentlich sehr jungen Jugendlichen“ (Perrot 1997,<br />

S. 121).<br />

In der nationalen Sozialberichterstattung im 19. Jahrhundert wird die Jugendfrage darum auch im Kontext der<br />

Bedeutung analysiert, welche die industrielle Arbeitsteilung für die berufliche Qualifizierung und Ordnungsvorstellungen<br />

von jungen Menschen hat. So holte bereits 1875 der Verein für Sozialpolitik in einer seiner ersten<br />

Sitzungen 16 Gutachten darüber ein, wie das Lehrlingswesen in Deutschland reformiert werden könne (vgl.<br />

hierzu Schmoller 1878, S. 191). Der jugendliche Arbeiter erschien in der Sozialberichterstattung am Ende des<br />

19. Jahrhunderts von jeglicher institutionellen Kontrolle freigesetzt. Erst der Eintritt ins Heer schien diese „Kontrolllücke“<br />

(vgl. Peukert 1986) nach der Schule zu beenden. Gesucht wurden institutionelle Möglichkeiten (z. B.<br />

Fortbildungsschulen, gewerbliche Schulen oder Lehrwerkstätten), um auf diese sozial- und ordnungspolitische<br />

Herausforderung zu reagieren. Letztlich stand die Frage im Mittelpunkt, wie das Jugendalter im aufstrebenden<br />

industriellen Nationalstaat institutionell reguliert werden sollte. Die Jugendlichen erschienen in die nationale<br />

Industriegesellschaft hinein freigesetzt.<br />

Die Sozialreformerin und spätere Reichtstagsabgeordnete Baum thematisierte in diesem Zusammenhang bereits<br />

(1910) unter Bezug auf die Berufszählungen von 1895 und 1907 die geschlechterspezifischen Unterschiede: Vor<br />

dem Hintergrund der Einrichtung von Maßnahmen zur Bildung und sozialen Sicherung des männlichen Arbeiters<br />

forderte sie für Frauen ähnliche Strukturen, deren berufliche Integration zu dieser Zeit deutlich anstieg.<br />

Besonders die weibliche Jugend erfahre im „Entwicklungsalter“, das als „Brennpunkt der Persönlichkeitsbildung“<br />

angesehen werden müsse, keine Unterstützung. Die Persönlichkeitsbildung der jungen Frauen im industriellen<br />

Kapitalismus werde, so ihre Kritik – in der „Doppelstellung zu Beruf und Ehe“ – durch die ungelernte<br />

Erwerbsarbeit und die „Enge des Hauses“ erdrückt (Baum 1910, S. 104f.). Baum forderte, dass die Jugendpolitik<br />

– man könnte sagen – eine generationale Gewerkschaft zu sein habe und der jungen Generation – aus ihrer<br />

Sicht insbesondere den Mädchen – die „Bewegungsfreiheit“ sichern und geben solle, damit sie sich zu „Persönlichkeiten“<br />

entwickeln könnten (ebd.). Letztlich habe die Pädagogik für diese den gleichen Dienst zu erfüllen<br />

wie die Gewerkschaften und Arbeiterbildungsvereine ihn für den erwachsenen männlichen Arbeiter leisten. Die

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