02.02.2017 Aufrufe

Kinderund

1811050

1811050

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 423 – Drucksache 18/11050<br />

diese Weise erfahren, dass die Freizeit ein Raum der Selbstfindung und -erprobung, des Experimentierens abseits<br />

von zuhause, der Schule, der Familie und anderer sozialer Bezüge sein kann.<br />

In einem Forschungsprojekt zu Ferienfreizeiten in der Kinder- und Jugendarbeit zeigen Herrmann u. a. (2016),<br />

dass gerade die Distanz von der Alltagswelt das Besondere dieser Art von Angeboten ausmacht und dass Jugendlichen<br />

diese Erfahrung noch lange Zeit in Erinnerung bleibt. Ohne die im Alltag erfahrenen Reglementierungen<br />

ist es aus Sicht der Jugendlichen auch wichtig, dass sie frei von einer Verwertungs- und Leistungsorientierung<br />

sind (ebd., S. 5). Bei Freizeiten und ähnlich gelagerten Angeboten, wie z. B. Feriencamps, Begegnungen,<br />

Fahrten und Reisen, wird durch den Ortswechsel der besondere Charakter dieser Formen der Kinder- und<br />

Jugendarbeit gleichsam verstärkt – er „entrückt“ sie noch deutlicher von der Alltagswelt und schafft einen zeitlich<br />

begrenzten Schutzraum vor ihr. Zu der Differenz zwischen Alltagswelt und der Welt der Angebote der<br />

Kinder- und Jugendarbeit und der räumlichen Differenz zwischen dem Heimatort und dem Zielort der Freizeit<br />

kommt zusätzlich noch die zeitliche Verdichtung, die Freizeiten und Feriencamps eine hohe Kohärenz als „Gegenwelten“<br />

112 verleihen. Die Rahmung der Freizeiten durch ihre abgegrenzten Orte, Zeiten und ermöglichende<br />

Pädagogik strebt danach, jeweils neue offene und meist erst noch auszugestaltende Orte für Jugendliche zu<br />

schaffen. 113<br />

In solchen, von Einflüssen der Alltagswelt graduell geschützten, Räumen lassen sich daher auch zugespitztere<br />

Erprobungen und Gegenentwürfe von Selbstbestimmung und Selbstpositionierung entwickeln, als sie im Alltagsleben<br />

Jugendlicher allgemein möglich sind. Viele solcher Möglichkeiten ergeben sich gewissermaßen „von<br />

selbst“, denn sie sind Teil der Aneignung durch die jugendlichen Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Das allerdings<br />

macht die Feriencamps nicht regellos, denn auch Freiräume brauchen gemeinsame Regeln. Entscheidend<br />

ist, dass diese von Jugendlichen selbst aufgestellt werden und ihre Einhaltung von ihnen organisiert wird. Nicht<br />

nur in selbst organisierten Camps ist dies der Fall. Auch in anderen Formen der Ferienfreizeiten, die „durchorganisiert“<br />

sind, können solche Freiraumperspektiven beobachtet werden und kann die Kinder- und Jugendarbeit<br />

durch einen Ortswechsel zu einer Arena der Freiraumentwicklung werden.<br />

Andere Formen der Möglichkeit von Freiräumen lassen sich überall dort beobachten, wo die Inhalte für die<br />

Ausgestaltung durch Jugendliche offen gehalten werden. Als Beispiel sei auf die musisch-kulturelle Kinder- und<br />

Jugendarbeit verwiesen. Musisch-kulturelle Kinder- und Jugendarbeit betont nicht allein die technische und<br />

künstlerische Seite des Einstudierens und Aufführens eines Theater- oder Musikstücks; vielmehr überlässt sie,<br />

soweit sie sich als Kinder- und Jugendarbeit versteht, den Teilnehmenden Entscheidungsräume in Bezug auf<br />

den musisch-kulturellen Kern der Arbeit; zum Beispiel die Entscheidung, welche Stücke einstudiert werden<br />

oder wie sie zu interpretieren sind. Sie lässt zudem Raum für ein Musizieren oder Spielen ohne Vorbedingungen<br />

und – nicht zu vernachlässigen: Sie lässt Raum für Geselligkeit und das Gestalten des „sonstigen“ Raumes.<br />

Freiräume sind aber auch innerhalb von Angeboten möglich, die mit einem konkreten Ziel gestaltet werden. Die<br />

offene Kinder- und Jugendarbeit in benachteiligten Stadtteilen etwa oder bei jenen Angeboten, die zunehmend<br />

Methoden der offenen Kinder- und Jugendarbeit und der Jugendsozialarbeit vermischen, reflektieren vielfältig,<br />

wie Freiräume geschaffen werden können (vgl. Bundesweites Netzwerk Offene Jugendarbeit 2013). Sie haben<br />

den Anspruch, Jugendlichen gemeinsam im „Schutzraum Jugendarbeit“ die Gestaltung von Freiräumen zu ermöglichen,<br />

statt auf der Straße in Zwischenräumen und unter ständiger Bedrohung durch Autoritäten Freiräume<br />

zu suchen. Gerade jene Jugendlichen, die sich aufgrund ihres Aussehens, ihrer Herkunft oder ihres sozialen<br />

Status und ihrer verfügbaren Ressourcen in kommerziell ausgerichteten, pseudo-öffentlichen Räumen nicht ungestört<br />

aufhalten können (vgl. Deinet 2009), finden in den Angeboten der Kinder- und Jugendarbeit Rückzugsund<br />

Gestaltungsräume.<br />

Allerdings ist die Ermöglichung des Erlebens von Freiraum in der Kinder- und Jugendarbeit keine Selbstverständlichkeit;<br />

junge Menschen müssen sich auch immer wieder solche Räume aneignen und zu ihren eigenen<br />

machen. Dabei kommt es wesentlich darauf an, dass Jugendliche selbst als aktive Subjekte die Gestaltungsverantwortung<br />

solcher Räume wahrnehmen können. So zeigt sich – auch, um bei dem Beispiel Freizeiten zu bleiben,<br />

bei den Ferienfreizeiten als eine Form der „Jugendarbeit durch einen Ortswechsel“ –, dass äußere Bedingungen<br />

und eine Vielzahl von Zwängen und Anforderungen das Ringen um Freiräume aktuell erschweren. Un-<br />

112<br />

113<br />

Foucault (2005) spricht in diesem Zusammenhang von Heterotopien, also von Orten, die den üblichen gesellschaftlichen Bedingungen und<br />

Regeln nicht oder nur teilweise entsprechen, diese ggf. negieren bzw. punktuell ersetzen.<br />

Winkler (2015, S. 4) beschreibt in einer sozialpädagogischen Reflexion über Freiräume als Orte für Jugendliche einen erstrebenswerten Ort<br />

wie folgt: „Ein guter Ort schafft Sicherheit, lädt zum Verweilen ein, beruhigt und bewegt zugleich. Man fühlt sich situiert, aber nicht festgehalten.“

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!