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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 439 – Drucksache 18/11050<br />

wie erste Diskussionen um die Transitionspsychiatrie oder -medizin zeigen. Wohnungsloseninitiativen und internationale<br />

Studien berichten zudem, dass durchaus eine beachtliche Gruppe der von ihnen Unterstützten junge<br />

Erwachsene mit Jugendhilfeerfahrungen seien.<br />

Es ist somit zwischen allgemeinen Verselbstständigungsprozessen im Jugendalter und der besonderen Freisetzung<br />

von den Hilfen zur Erziehung (Hilfeende) zu unterscheiden. Zu häufig und zu selbstverständlich wird das<br />

Hilfeende mit der Verselbstständigung gleichgesetzt. Hilfen zur Erziehung sollten entsprechend dazu übergehen,<br />

die Verselbstständigungs-, Qualifizierungs- und Selbstpositionierungsprozesse, mit denen die Jugendlichen<br />

in ihren jeweiligen Lebenskonstellationen konfrontiert sind, mitzugestalten und die Jugendlichen und jungen<br />

Erwachsenen in der Bewältigung und Gestaltung dieser Herausforderungen zu unterstützen.<br />

Im englischsprachigen Raum wird davon ausgegangen, dass „Independency“ eine Qualität von „Interdependency“<br />

sei. In deutscher Sprache lässt sich dieses Wortspiel nicht so einfach übertragen. Gemeint ist damit, dass<br />

sich die persönlichen und institutionalisierten Beziehungen der Jugendlichen und jungen Erwachsenen so verändern<br />

können bzw. sollten, dass sie zunehmend zu einer Ressource individueller Verantwortungsübernahme<br />

und selbstständiger Gestaltung von sozialen Zugehörigkeiten im alltäglichen Leben der jungen Menschen werden<br />

und ihnen eine soziale Hintergrundsicherheit vermitteln. Verselbstständigung meint damit nicht das Auflösen<br />

der sozialen Beziehungen. Auch in familialen Kontexten wird der Prozess der Verselbstständigung nicht mit<br />

einem Bruch von familialen Beziehungen und Ressourcen gleichgesetzt, sondern als Transformation dieses<br />

Beziehungsgefüges begriffen. Dies bedeutet aber, dass auch im jungen Erwachsenenalter entsprechende Beziehungsangebote<br />

gemacht und soziale und materielle Ressourcen angeboten werden müssen, auf die junge Menschen<br />

zurückgreifen können, um die Kernherausforderungen des Jugendalters bewältigen und gestalten zu können,<br />

insbesondere wenn ihnen die familialen und peerbezogenen Ressourcen fehlen. Insgesamt drückt sich ‚soziale<br />

Gerechtigkeit‘ in den Verselbstständigungs- und Selbstpositionierungsprozessen auch in der Qualität von<br />

sozialen Beziehungen und Milieus aus, die junge Menschen alltäglich erleben.<br />

Zu klären ist aber auch, ob die Hilfen zur Erziehung überhaupt alle jungen Menschen erreichen, die sie erreichen<br />

müssten. So ist die Wohnungslosigkeit im Jugend- und jungen Erwachsenenalter zweifellos als ein hoch<br />

relevantes biografisches Problem anzusehen. Verlässliche Daten liegen diesbezüglich ebenfalls nicht vor. Jugendliche<br />

und junge Erwachsene, die über keinen festen Wohnsitz verfügen, sind häufig auch von anderen Unterstützungsstrukturen<br />

ausgeschlossen und finden nur selten Zugang zu Formen sozialer Teilhabe, in denen sie<br />

in ihrer Qualifikation gefördert sowie in ihrer Selbstpositionierung unterstützt werden. Diese Jugendlichen müssen<br />

häufig erfahren, dass die familialen Unterstützungsressourcen bereits im Jugendalter ausgeschöpft sind (vgl.<br />

Lutz 2013), sie zu frühen „Family leavern“ werden und sie ihre Verselbstständigung ohne existenzielle Absicherung<br />

gestalten. Hier sind verlässliche niedrigschwellige Angebote, insbesondere für das junge Erwachsenenalter,<br />

dringend erforderlich.<br />

Weiterhin stellt sich die Frage, ob die Kinder- und Jugendhilfe jeweils vor Ort auch über eine für Jugendliche<br />

und junge Erwachsene erreichbare Infrastruktur verfügt, die ihnen Beratung und Hilfen anbietet, wenn sie in<br />

ihren persönlichen Rechten verletzt werden. Wie werden flächendeckend und alltagsnah Unterstützungs- und<br />

Beratungsformen für Jugendliche und junge Erwachsene angeboten, die z. B. Gewalt- und Diskriminierungserfahrungen<br />

im sozialen Umfeld, in den Familien, in den Gleichaltrigengruppen, in stationären Einrichtungen, in<br />

Kliniken, Internaten, Vereinen, Verbänden oder in der Schule gemacht haben? Zwar haben sich pädagogische<br />

Einrichtungen und Verbände, wie etwa die Jugendverbände, in den letzten Jahren auf den Weg gemacht,<br />

Schutzkonzepte zu formulieren und Fortbildungen durchzuführen (z. B. im Rahmen der JuleiCa-Kurse), um<br />

innerhalb der Organisationen eine größere Achtsamkeit gegenüber Gewalt und Übergriffen zu schaffen. Allerdings<br />

fehlt es an einer durchgängigen Etablierung derartiger Strategien in den Organisationen, etwa auch in<br />

Schulen, in den Hilfen zur Erziehung, in gesundheitsbezogenen Diensten und Jugendämtern sowie in der regionalen<br />

Infrastruktur der Kinder- und Jugendhilfe.<br />

Jugendliche sind in ihren Familien sowie in den genannten Organisationen darauf angewiesen, dass sie sowohl<br />

den Settings als auch den darin agierenden Erwachsenen vertrauen können. Vertrauen bedeutet aber in gewisser<br />

Hinsicht für die Jugendlichen immer auch ein Risiko (vgl. Bartmann u. a. 2013). Denn Jugendliche haben mitunter,<br />

z. B. im familialen Kontext, in der Schule oder in sozialen Diensten, nicht die Wahl, mit wem sie aufwachsen<br />

und wer sie unterrichtet, wer sie betreut, erzieht oder therapiert. Sie sind Erwachsenenbeziehungen im<br />

institutionellen Gefüge des Aufwachsens, aber auch Peerbeziehungen in gewisser Hinsicht ausgesetzt. Die Forschung<br />

zur familialen Gewalt, zur Vernachlässigung von Jugendlichen sowie zu Machtmissbrauch und Über-

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