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Kinderund

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Drucksache 18/11050 – 82 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode<br />

nisch/Schefold 2017). Einerseits wird der Jugendgeneration zugestanden, ihren Platz in der bundesrepublikanischen<br />

Gesellschaft in naher Zukunft zu finden, weil sie quasi selbstverständlich die freiheitliche Ordnung für<br />

sich nutze; andererseits wird hervorgehoben, dass diese freiheitliche Ordnung nur fortbestehen könne, „wenn<br />

die Jugend dazu herausgefordert wird, an sich selbst zu arbeiten und dabei lernt, verantwortlichen Gebrauch von<br />

den Möglichkeiten der Freiheit zu machen. Insoweit bedarf die gesamte Jugend der Hilfe. Die Jugendhilfe muss<br />

differenziert, intensiv und anspruchsvoll sein“ (Deutscher Bundestag 1965, S. 6f.). Diese sozialpolitische Aufgabe<br />

wird vor dem Hintergrund einer Gesellschaft formuliert, die sich und ihre Perspektiven auf Jugend kaum<br />

selbst hinterfragt. Mit Blick auf die Jugendgeneration werden allenfalls Besorgnisse über zunehmende Individualisierungstendenzen<br />

zum Ausdruck gebracht. Freiheit zu leben, so der Grundtenor, muss gesellschaftlich erund<br />

gelernt werden. Insgesamt kann der Erste Jugendbericht als ein Dokument gelesen werden, das eine – auch<br />

zahlenmäßig – starke Jugendgeneration vor Augen hat, die quasi fraglos irgendwann ihren Platz in der Gesellschaft<br />

einnehmen wird, noch ganz von der Generationenabfolge und ihrem (naturwüchsigen) Wechsel getragen.<br />

Im Fünften Jugendbericht, der zwischen 1976 und 1979 als Gesamtbericht erstellt wurde, wird eine Jugendgeneration<br />

gezeichnet, die unter einem enormen Anpassungsdruck steht. Nach den gesellschaftlichen Reformbewegungen<br />

Ende der 1960er Jahre ist die Gesellschaft Ende der 1970er Jahre angesichts der Verknappung von Ausbildungs-<br />

und Erwerbsarbeitsplätzen stark von Leistungs- und Konkurrenzdruck geprägt. Jugendliche müssen<br />

ihre Biografie vor dem Hintergrund schwieriger gewordener Bedingungen entwerfen (vgl. Böhnisch/Schefold<br />

2017, S. 4; Deutscher Bundestag 1980, S. 24f.). Schulversagen, Ausbildungsmisere und Jugendarbeitslosigkeit<br />

sind die zentralen Probleme, mit denen diese Jugendgeneration konfrontiert ist. Zugleich wird der Jugendgeneration<br />

der ausgehenden 1970er Jahre mit Bezug zu diesen sozialen Problemen ein abnehmendes politisches<br />

Engagement unterstellt. Sozialpolitisch wird gefordert, die stagnierenden, aber dringend notwendigen Reformen<br />

wieder aufzunehmen, damit sich die Jugend den „Entwicklungsbesonderheiten und ihrer generationalen Stellung<br />

gemäß in der Gesellschaft entfalten kann (…): Damit kam ein neues diskursives Element: Das Recht des<br />

jungen Menschen auf Erziehung, auf Entfaltung seiner Persönlichkeit. Kinder und Jugendliche werden zu<br />

‚Grundrechtsträgern’“ (Böhnisch/Schefold 2017, S. 5). Vor dem Hintergrund der Thematisierung von Widersprüchen<br />

zwischen den gesellschaftlichen Erwartungen an Jugend und „belastenden und nachteiligen Lebensbedingungen,<br />

denen Kinder und Jugendliche ausgesetzt sind“ (Deutscher Bundestag 1980, S. 21), findet sich im<br />

Fünften Kinder- und Jugendbericht ein anderer Blick auf die Jugendgeneration: Nicht die naturwüchsige Generationenabfolge<br />

wird hier zum Thema, sondern die Annahme, dass Jugend nicht fraglos ermöglicht wird.<br />

Diese Perspektive schreibt sich im Sechsten Jugendbericht (Deutscher Bundestag 1984) fort und wird nun um<br />

die Kategorien Geschlecht und Lebenslage erweitert und konkretisiert. Der sogenannte „Mädchenbericht“, in<br />

dem es darum ging, die Lebenswirklichkeit von Mädchen und jungen Frauen zu thematisieren, entwirft das Bild<br />

von einer geschlechtshierarchisch geteilten Jugend, die nicht länger geschlechtslos als „die Jugend“ verstanden<br />

werden kann. Mädchen und junge Frauen sind mit gesellschaftlichen Weiblichkeitskonstruktionen der geschlechterhierarchischen<br />

Arbeitsteilung konfrontiert, die sich stärker in die Lebensverhältnisse einschreiben als<br />

milieuspezifische und biografische Auswirkungen. Abwertung und Benachteiligung weiblicher Lebensverhältnisse<br />

sind die Folge. Im Bericht wird argumentiert, dass sich diese Chancenungleichheit sozialpolitisch nur<br />

verändern ließe, wenn eine grundlegende Veränderung geschlechterhierarchischer Arbeitsteilung angestrebt<br />

werde.<br />

Im Achten Jugendbericht (Deutscher Bundestag 1990), der mit dem Entwurf einer „lebensweltorientierten Jugendhilfe“<br />

auch gelesen werden kann als eine Erweiterung des Lebenswirklichkeitsansatzes aus dem Sechsten<br />

Jugendbericht, löst ein Bild von Jugend als „sozialstrukturell pluralisierter und individuell zu gestaltender Lebensphase“,<br />

Bilder historischer Generationenentwürfe und gesellschaftlich institutionalisierter Jugenddiskurse<br />

ab: „Nicht mehr der ‚Übergang’ in die Gesellschaft, sondern die Selbstständigkeit dieser Lebensphase steht im<br />

Fokus“ (Böhnisch/Schefold 2017, S. 5). Große Bedeutung kommt dabei den kulturellen, sozioökonomischen<br />

und demografischen Wandlungsprozessen zu, die sich seit den 1990er Jahren klar abzeichnen: Die Gruppe der<br />

Jugendlichen in der bundesdeutschen Gesellschaft schrumpft bei gleichzeitig steigender Lebenserwartung der<br />

Älteren. Zudem werden die „Pluralisierung der Lebensverhältnisse“ und die „Individualisierung der Lebensführung“<br />

als zwei zentrale Paradigmen formuliert. Die Jugendgeneration wird in diesem Bericht nicht mehr zuerst<br />

als diejenige Generation thematisiert, die in der Generationenabfolge einen zukünftigen gesellschaftlichen Entwurf<br />

erarbeitet bzw. zu erarbeiten hat. Vielmehr geht es nun um die Lebens- und Gesellungsformen, die Alltagskultur<br />

und den Konsum als ausgewiesene Kennzeichen jugendtypischer Selbstständigkeit. Kurz: Die Gegenwartsorientierung<br />

von Jugend wird in diesem Bericht fokussiert, wohl auch, weil sich die seit den 1990er<br />

Jahren vervielfältigenden Möglichkeiten und Zwänge der Lebensformen deutlich abzeichneten. Sozialpolitisch

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