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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 263 – Drucksache 18/11050<br />

S. 156). Wenig überraschend ist damit, dass Hauptschüler eine 90 Prozent höhere Chance haben, dass ihre<br />

Freunde aus dem eigenen Stadtviertel kommen als Gymnasiasten. „Die sozialräumliche Selbstselektion der<br />

Kinder und Jugendlichen im Rahmen ihres Freizeitverhaltens ist dabei ein ganz entscheidender Faktor für die<br />

Existenz von Einflüssen des Wohnquartiers“ (Oberwittler 2008, S. 76), da vor allem bei Jugendlichen mit lokalen<br />

Freundeskreisen quartiersbezogene Effekte auf delinquentes Verhalten ausgemacht werden konnten. Gewalterfahrungen<br />

(als Opfer oder Täter), so geben es im Rahmen einer Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts<br />

(KFN) zwei Drittel von 3.661 befragten Jugendlichen in Hannover an, sind innerhalb des jeweiligen<br />

Stadtteils lokalisiert (Rabold/Baier 2013). Zudem nimmt das Risiko einer aktiven Gewalttäterschaft bei Jugendlichen<br />

mit dem Grad der sozialen Desorganisation 43 und der Konflikthaftigkeit der nachbarschaftlichen Beziehungen<br />

zu.<br />

Interessant erscheint bei Oberwittler (2008, S. 80f.; 2013), dass insbesondere „einheimische“ Mädchen 44 stärker<br />

auf sozialräumliche Kontexteinflüsse reagieren als Mädchen mit Migrationshintergrund, bei denen diese sogar<br />

deutlich mit steigendem Segregationsgrad sinkt. „Einheimische“ Mädchen sind nach dieser Studie in den am<br />

stärksten benachteiligten Wohnquartieren ebenso häufig in gewaltaffinen Cliquen organisiert wie „einheimische“<br />

Jungen. Überhaupt zeigt sich hier ein starker Zusammenhang der Delinquenzneigung vor allem deutscher<br />

Jugendlicher mit dem Grad der sozialräumlichen Benachteiligung, während die Delinquenz „nicht-einheimischer“<br />

Jungen außerhalb der benachteiligten Wohnquartiere genauso hoch ist und bei „nicht-einheimischen“<br />

Mädchen sogar noch höher liegt. Der Zusammenhang von Delinquenzneigung und Wohnquartier erweist sich<br />

damit weniger als eine Migrations- als vielmehr eine Problematik von Benachteiligungserfahrungen und damit<br />

eine „soziale Problematik, von der deutsche und nicht-deutsche Jugendliche in ähnlicher Weise betroffen sind“<br />

(ebd. 2008, S. 80).<br />

Reine residenzielle Segregationseffekte auf Jugenddelinquenz nachzuweisen erscheint jedoch problematisch,<br />

finden sich doch immer wieder auch Aussagen von Jugendlichen, die so einem Kausalzusammenhang widersprechen.<br />

So sind es vor allem die Einbindung in gewaltaffine Freundesgruppen, das Aufhalten an öffentlichen<br />

Orten, die sich einer sozialen Kontrolle weitgehend entziehen (Hangout-Zonen, wie z. B. Parks, Grünanlagen)<br />

sowie eine hohe Konflikthäufigkeit im Stadtteil selbst und fehlende positive Rollenbilder im Wohnquartier, die<br />

jugendliches Gewaltverhalten fördern (Baier/Pratör 2015).<br />

In allen Studien, die sich auf Jugendliche selbst beziehen wird die hohe Bedeutung der Peervergemeinschaftung<br />

betont, die sowohl für die Bindung an den Stadtteil als auch für damit verbundene Spannungen und Abgrenzungen<br />

von Bedeutung sind. Peers sind dabei zum einen diejenigen, über die brüchige oder fragile familiale Konstellationen<br />

als Belastungsmomente kompensiert werden, die Jugendliche in benachteiligten Wohnquartieren<br />

aber häufig auch mit einem „Code von körperlicher Stärke und Gewalt“ (Keller 2007, S. 189) konfrontieren<br />

können. Damit erwerben Jugendliche Handlungsstrategien, die sich im Kontext des Quartiers zwar als nützlich<br />

erweisen können, die jedoch in anderen Kontexten, etwa der Schule, eher dysfunktional sind. Ähnlich verweisen<br />

El-Mafalaani und Strohmeier (2015) auf die spezifischen Handlungsanforderungen in benachteiligten Quartieren<br />

als „Umgebung multipler Knappheiten“, die durch einen „Mangel an Geld und Besitz, an sozialen Beziehungen,<br />

Fürsorge, Handlungsoptionen, Entwicklungsimpulsen, Anerkennung etc.“ (ebd., S. 35) gekennzeichnet<br />

sind. Insbesondere Jugendlichen, die kaum auf andere biografische Ressourcen zurückgreifen können, kaum<br />

alternative Handlungsoptionen haben und primär auf quartiersbezogene Peerzusammenhänge verwiesen sind,<br />

fällt es schwer, sich neue Handlungsräume zu erschließen, was zu gesteigerten Konflikt- und Exklusionsdynamiken<br />

führen kann (Keller 2007).<br />

Für Jugendliche ergibt sich damit die Notwendigkeit, Handlungen an Kurz- statt Langfristigkeit und weniger an<br />

entfernten Zielen als vielmehr an vorhandenen Ressourcen auszurichten. Gewaltakzeptanz und Gewaltbereitschaft<br />

können dann in segregierten Räumen für Jugendliche hochgradig funktional sein. Für Jugendliche in stark<br />

segregierten Sozialräumen, wie etwa in der Untersuchung von Paul (2015) in der Dortmunder Nordstadt, geht<br />

soziale Anerkennung immer auch mit „Härte zeigen“, „Respekt besitzen“ oder sich „Respekt verschaffen“ einher<br />

und die Nordstadt ist für sie ein Raum, der eben dies möglich macht (vgl. ebd., S. 62): „Was und wie man<br />

ist, wird stark mit der Nordstadt in Verbindung gebracht und zum Teil in Verhaltensregeln […] expliziert“.<br />

Delinquentes Verhalten wird – im Horizont der damit verbundenen cliquenbezogenen sozialen Anerkennung –<br />

also zum sozialen Kapital. Für die Jugendlichen gelten dabei „die Maßstäbe segregierter Räume, die deshalb<br />

43<br />

44<br />

Gemessen anhand von Indikatoren der amtlichen Statistik: Ausländeranteil, Arbeitslosenquote, Sozialhilfequote (vgl. Rabold/Baier 2013, S.<br />

179) – soziale Desorganisation steht damit hier für den Grad residenzieller Segregation.<br />

Einheimisch wird hier definiert als: beide Elternteile sind in Deutschland geboren.

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