RWI - Rheinisch-Westfälisches Institut für Wirtschaftsforschung

Kapitel X: Modernisierung des Handwerksrechts 491
lienischen Industriebezirke gelten zu Recht als Verkörperung eines im Ansatz stark
handwerklich geprägten Industrialisierungspfades, in dem eine handwerkliche und
kleingewerbliche Selbständigenkultur bis heute eine herausragende Rolle spielt. Aus
Frankreich wird eine starke Traditionsverhaftung und gruppenspezifische kulturelle
Identität des Handwerks berichtet. Die Schweiz, ein Land, in dem das Prinzip der Gewerbefreiheit
gilt, das berufliche Bildungssystem aber dem deutschen sehr nahe ist, ist
Heimat eines handwerklich geprägten Mittelstandes, der dem deutschem Handwerk in
punkto Selbständigenkultur und Vitalität handwerklicher Familientradition mitnichten
nachsteht. Schließlich wurde die Selbständigenkultur im Handwerk bis 1935 mit Erfolg
von Generation zu Generation übertragen, ohne dass der große Befähigungsnachweis
hierbei eine Rolle gespielt hätte.
3.2.2.11. Weniger Zwang, mehr Flexibilität, mehr Offenheit
Eine Konsequenz der Liberalisierung des Handwerksrechts, die zwar nicht in Zahlen zu
messen ist, jedoch nicht unterschätzt werden sollte, ist ein Zuwachs an Bewegungsfreiheit
und Einschränkung staatlichen Zwangs für den Einzelnen. Die über Jahrzehnte
hinweg übliche Abmahnungspraxis der Handwerkskammern im Falle von Verstößen
gegen das geltende Handwerksrecht ist eine negative Seite, deren verheerende psychologische
Auswirkungen auf die Öffentlichkeit von den Interessenorganisationen des
Handwerks stark unterschätzt wurden. Rechtsstreitigkeiten unter Unternehmen unterschiedlicher
Gewerke bezüglich der Abgrenzung ihrer Tätigkeitsfelder haben nach den
Novellierungen der neunziger Jahre sicher an Bedeutung verloren. Ein Ärgernis für weite
Teile der Öffentlichkeit sind sie aber immer schon gewesen. Dem mündigen Staatsbürger
war schon in der Vergangenheit kaum klar zu machen, warum die Ausübung
einer einfachen handwerklichen Tätigkeit ein justiziabler Sachverhalt sein sollte. Ärzte
und Anwälte, so könnte man dagegen argumentierend einwenden, müssen auch ihre in
langen formalisierten Ausbildungsgängen erworbene Befähigung nachweisen. Aber da
besteht, bei allem Respekt für die hohen Anforderungen handwerklicher Berufe, doch
wohl ein substanzieller Unterschied.
Gänzlich unverständlich, aber als Symptom für eine Fehlleitung des handwerklichen
Ordnungssystems durchaus ernst zu nehmen, waren die neunziger Jahren sporadisch
anzutreffenden Versuche einzelner Handwerkskammern, sich – für das Informationselektronikerhandwerk
– des Bereichs der Computerreparaturen mit den Mitteln behördlichen
Zugriffs zu bemächtigen. Dies lässt nicht nur auf eine völlige Fehleinschätzung
der Strukturen und Vertriebssysteme des PC-Marktes sowie der (eher bescheidenen)
Marktpotenziale für PC-Reparaturen seitens der hierfür Verantwortlichen schließen,
sondern auch darauf, dass die seinerzeit seitens des Bundesverfassungsgerichts ausgesprochenen
Ermahnungen hinsichtlich eines vorsichtigen Umgangs mit den konzidierten
subjektiven Zulassungsvoraussetzungen nicht immer ernst genommen wurden.
Mehr Freiheit also für die Wirtschaftssubjekte steht eindeutig auf der positiven Seite
der Liberalisierung des Handwerksrechts. Wenn darüber die Grenzen zwischen den
handwerklichen Berufen in Zukunft weniger starr fixiert sind, mehr Aktivitäten außer-