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RWI - Rheinisch-Westfälisches Institut für Wirtschaftsforschung

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Kapitel II: Die Identität des Handwerks 31<br />

vorindustrielle Ursprünge auf, leiten ihre Herkunft also aus den in Preußen bis 1810/11<br />

in Zünften organisierten Kleingewerben ab. Fast alle in der großen neunbändigen Untersuchung<br />

11 des Vereins <strong>für</strong> Socialpolitik (1895-97) behandelten Handwerke sind heute<br />

noch Bestandteil des rechtlich verfassten Handwerks. Interessant sind allerdings gewisse<br />

Abweichungen in den Berufslisten. Gärtner zählten aus der Sicht der Forscher des<br />

Vereins <strong>für</strong> Socialpolitik zum Handwerk, Kraftfahrzeugtechniker und Landmaschinentechniker<br />

hingegen ebenso wenig wie Gebäudereiniger.<br />

Die Automobilindustrie befand sich zum Zeitpunkt der Untersuchung noch in ihren Anfängen,<br />

eines flächendeckenden Netzes von Reparaturwerkstätten bedurfte es also nicht.<br />

Weshalb aber hat sich der Beruf des Automechanikers zum Handwerk entwickelt, derjenige<br />

des Flugzeugmechanikers oder des Schiffsmechanikers jedoch nicht? Weshalb<br />

hat sich kein Baumaschinenhandwerk entwickelt, wohl ein Landmaschinenmechanikerhandwerk<br />

12 ? Aus welchem Grund sind Friseure Handwerker, Kosmetiker und Tätowierer<br />

hingegen nicht? Sicher spielen die Marktstrukturen, Organisationsformen und der<br />

Entwicklungspfad des betreffenden Wirtschaftszweigs eine zentrale Rolle. Der Flugzeugservice<br />

lag in der Regel in der Hand der Flughäfen und Fluggesellschaften oder in<br />

der Hand großer Serviceunternehmen. Handwerkliche Kleinbetriebe hatten auf diesem<br />

Feld niemals eine echte Chance. In anderen Fällen kommt offensichtlich eine im 19.<br />

und frühen 20. Jahrhundert gewachsene soziale Konvention ins Spiel.<br />

Für die Aufnahme einzelner Berufe in das rechtlich verfasste Handwerk war letztlich<br />

maßgebend, inwieweit sich deren Angehörige selbst als „Handwerker“ verstanden und<br />

mittels ihrer Interessenorganisation (Berufsverbände, Innungen) ihre Zugehörigkeit zum<br />

Handwerk bekundeten bzw. – falls sie nicht historisch „geborene“ Mitglieder der<br />

Handwerkerschaft waren – durch Verbandsarbeit aktiv betrieben. So war es möglich,<br />

dass auch neue Handwerke, die ihren Ursprung im Industrialisierungsprozess und sektoralen<br />

Strukturwandel des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts hatten – wie die Kfz-<br />

Mechaniker oder die Gebäudereiniger –, zum Handwerk stießen. Andere, im Mittelalter<br />

in Zünften organisierte Handwerke wie die Fischer fanden nicht zum organisierten<br />

Handwerk. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Handwerkseigenschaft eines Berufs<br />

wesentlich als soziales Konstrukt dar. Ihr Erwerb stellt sich als Teil des komplexeren<br />

Professionalisierungsprozesses bestimmter Tätigkeitsfelder dar, der in der Definition<br />

und institutionellen Legitimierung neuer Berufe (z.B. der Ingenieursberufe im späten<br />

19. und frühen 20. Jahrhundert) mündet (hierzu Heidenreich 1999). Der Erwerb der<br />

Handwerkseigenschaft ist einerseits, wie das Ausscheiden frühneuzeitlicher Berufe aus<br />

dem organisierten Handwerk im 19. Jahrhundert zeigt, historisch widerrufbar. Sie kann<br />

11 Es handelt sich um das von Karl Bücher in Zusammenarbeit mit anderen führenden Mitgliedern<br />

betreute Großforschungsprojekt des Vereins <strong>für</strong> Socialpolitik über das Handwerk, an der über 100<br />

Forscher mitwirkten (Verein <strong>für</strong> Socialpolitik 1895-97). Die Ergebnisse des österreichischen Parts<br />

des Projekts wurden separat in Wien veröffentlicht.<br />

12 Die Tatsache, dass die Landmaschinenmechaniker heute überwiegend Baumaschinen reparieren,<br />

ändert nichts daran, dass die Reparatur von Baumaschinen nicht zum Vorbehaltsbereich des Landmaschinenmechanikerhandwerks<br />

gehört.

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