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Koordination und Qualität im Gesundheitswesen

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Medikalisierung<br />

840. Zu den Marketingstrategien der Industrie gehört auch das ,Erfinden’ von Krankheiten.<br />

Zumindest fördern Pharmaunternehmen203 durch unterschiedliche Aktivitäten die<br />

Ausweitung von Krankheitsbegriffen (disease mongering) mit dem Ziel, Absatzmärkte<br />

zu erschließen <strong>und</strong> Marktchancen zu erhören. Disease mongering trägt zur seit langem<br />

kritisierten Medikalisierung des Lebens bei. Der Begriff Medikalisierung bezeichnet die<br />

Ausweitung medizinischer Behandlungsindikationen in bisher nicht als behandlungsbedürftig<br />

angesehene Bereiche, z. B. bei der Umdeklarierung des natürlichen Vorgangs<br />

der Wechseljahre zur Hormonmangelkrankheit. Im Verlauf dieses Prozesses prägen professionelle<br />

ärztliche Deutungsmuster die Laieninterpretation körperlicher (<strong>und</strong> seelischer)<br />

Phänomene. Die Medizin dehnt so ihren Einfluss auf <strong>im</strong>mer größere Anteile des<br />

Alltagslebens <strong>und</strong> -befindens aus. 204 Gesellschaft, Industrie <strong>und</strong> Ärzte wirken hierbei zusammen,<br />

denn „inventing curable maladies for the essentially incurable condition of<br />

being human will continue to appeal to public and profit combined“ (Baker, E. et al.<br />

2003, S. 251).<br />

Nach Moynihan, R. et al. (2002) lassen sich dabei beispielsweise die folgenden Marketingstrategien<br />

identifizieren:<br />

− Normale körperliche Prozesse oder alltägliche Leiden werden zu medizinischen<br />

Problemen umdefiniert. Beispiel: Männlicher Haarausfall wird in Zusammenhang<br />

mit psychischen Problemen gebracht; bei Frauen gilt dies für Hypertrichose (vermehrte<br />

Körperbehaarung) – nicht jedoch für pathologisch veränderte Hormonbildung.<br />

− Vergleichsweise milde Symptome werden als Vorboten einer schwerwiegenden Erkrankung<br />

dargestellt. Beispiel: Das sogenannte Reizdarmsyndrom ist vom unangenehmen,<br />

doch harmlosen Symptomkomplex zu einer ernstzunehmenden Erkrankung<br />

mutiert.<br />

− Persönliche oder soziale Probleme werden als medizinische gedeutet. Beispiel:<br />

Schüchternheit wird zur medikamentös behandelbaren sozialen Phobie.<br />

203 Auch Hersteller medizinischer Geräte bedienen sich ähnlicher Methoden, vgl. von Reibnitz, C. u.<br />

List, S. 2000.<br />

204 Zur Medikalisierungsdebatte siehe z. B. Payer, L. 1992; Kolip, P. 2000; Smith, R. 2002; Blech, J.<br />

2003 u. 2004. Vgl. auch Gutachten 2000/2001, Band II, Kapitel 3.3 zu Begriffen wie Iatrogenisierung<br />

<strong>und</strong> Labelling.<br />

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