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Die Kinder des - Verlag Josef Knecht

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Für Cristino waren Onkel Pierres medizinische Bücher die einzige<br />

Aufheiterung in jenen langweiligen Tagen. Injeder freien Minute<br />

vergrub sie sich in ihre Seiten, bis spät in die Nacht saß sie mit<br />

einer Kerze an ihrer Seite über den Vesalius oder den Paré gebeugt<br />

und studiertedie Geheimnisseder Heilkunst und <strong>des</strong> menschlichen<br />

Körpers. Manchmal fand sie eine Randnotiz auf einer der Seiten,<br />

geschrieben in der schmalen, zierlichen Schrift einer Fra u. In die -<br />

sen Momenten war die Erinnerung an Beatrix so lebendig, dass ihr<br />

die Tränen in die Augen schossen.<br />

«Du solltest dich etwas mehr für den Baroun d’Alard oder den<br />

Cavalié de Siest interessieren und etwas weniger für deine komischen<br />

Bücher!», schimpfte die Dame Castelblanc, und Frederi<br />

Jùli spottete, Cristino würde wohl eher Docteur Ambroise Paré als<br />

den Baroun d’Alard heiraten wollen. Ach, halt den Rand, sc him pfte<br />

Cristino. Es war einer der seltenen Unstimmigkeiten zwischen<br />

Cristino und Frederi Jùli. Seit ihrer Rückkehr aus Ais waren die<br />

beiden ansonsten ein Herz und eine Seele. Um genau zu sein, war<br />

Frederi Jùli der Einzige, mit dem Cristino über ihre Leidenschaft<br />

zur Medizin reden konnte, jetzt, wo Tante Beatrix tot und Bruder<br />

Antonius fort war. Frederi Jùlis wissenschaftliches Interesse<br />

hielt sich zwar in Grenzen, aber er besaß die übliche Neugier eines<br />

neunjährigen Jungen gegenüber allem Fremden, Geheimnisvollen<br />

und Grusligen und konnte stundenlang Cristinos Vorträgen über<br />

Schusswunden, Amputationen und Pestepidemien lauschen. «Ich<br />

bin sicher, dass sich das Contagion über einen entsprechenden Filter<br />

isolieren lässt, wie jede andere alchemisch fassbare Substanz»,<br />

erklärte Cristino ihrem eifrigen Zuhörer. «Vermutlich kann man<br />

es <strong>des</strong>tillieren, und vermutlich kann man sich davor schützen, indem<br />

man einen Filter vor Nase und Mund legt und sich nach dem<br />

Kontakt mit einem Kranken von allen Schmutzstoffen reinigt, mit<br />

denen man in Berührung gekommen ist. Umso mehr, wenn es<br />

sich wirklich um einen lebenden Keim handeln sollte.» Sie wickelte<br />

nachdenklich eine Haarlocke um ihren Finger. «Was für einen<br />

lebenden Keim spricht, ist, dass Seuchen sich ausbreiten. Ein Gift<br />

müsste doch irgendwann verfliegen, aber das Contagion scheint im<br />

Rahmen einer Seuche immer mehr zu werden. Wie ein leben<strong>des</strong><br />

Wesen, das sich fortpflanzt.»<br />

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