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Die Kinder des - Verlag Josef Knecht

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in den Augen <strong>des</strong> Kin<strong>des</strong>, das Cristino aus dem Spiegel entgegensah,<br />

lächelnd, blinzelnd mit den langen blonden Wimpern, und<br />

das Medaillon auf ihrer Brust blinkte wie ein Abbild <strong>des</strong> Mon<strong>des</strong><br />

selbst. Still lagen die Löwen dem Spiegel zu Füßen, und Cristino<br />

hob eine Hand, bewegte sie zu auf die goldfarbene Mähne, die<br />

großen Pranken, den elegant geschwungenen Schweif.<br />

Das Mädchen im Spiegel hob ebenfalls die Hand und bewegte<br />

sie nach vorne, so als wolle sie Cristino berühren. Cristino hielt<br />

inne, erschrocken durch diese plötzliche Bewegung, und auch<br />

das Mädchen erstarrte, eine kleine weiße Hand in die silbernen<br />

Strahlen <strong>des</strong> Mon<strong>des</strong> getaucht. Einen Schritt rückwärts machte<br />

Cristino, einen zweiten, und auch das Mädchen stolperte rückwärts,<br />

einen erstaunten Ausdruck in dem kleinen Gesicht.<br />

Wer bist du, fragte Cristino und starrte auf die Lippen <strong>des</strong> Kin<strong>des</strong>,<br />

die sich bewegten in völligem Einklang mit den ihren. Dann blickte<br />

sie an sich hinunter, starrte auf die winzigen nackten Füße, die unter<br />

einem weißen Nachthemd hervorsahen, starrte auf die kurzen,<br />

pummeligen Kleinkinderarme an ihrer Seite – und begriff.<br />

Sie war nicht mehr Cristino Kermanach de Bèufort.<br />

Sie war Agnes, das Mädchen im Spiegel.<br />

Panik ergriff sie. Sie wollte nicht Agnes sein, Agnes, das Mädchen,<br />

das ein schreckliches Unglück ereilt hatte, Agnes, die von<br />

Mörderhand gestorben war, sie wollte zurück, in ihren eigenen<br />

Körper, den Körper der Cristino de Bèufort, zurück in das Haus<br />

in der Carriero de Jouque in Ais, zurück zu Catarino und Mama<br />

und Frederi. Ohne weiter nachzudenken drehte sie sich um und<br />

rannte.<br />

Korridore aus Marmor und Alabaster, Alabaster und Marmor,<br />

dehnen sich aus in Unendlichkeiten, auseinanderweichend, in der<br />

Ferne verdämmernd vor ihren hastigen Schritten, ein Hall wie<br />

in der Unendlichkeit <strong>des</strong> Weltengewölbes, so klein, so verloren,<br />

winzige Füße, die durch die Ewigkeit stolpern. Da ist eine Biegung,<br />

nach rechts, den rechten Weg will ich gehen, auf rechtem<br />

Pfade wandeln, Dunkelheit flutet aus Nischen und Türen, wirft<br />

Stolpersteine in ihren Weg. Doch weiter läuft sie, weiter, Angst<br />

hetzt sie vorwärts, denn es ist nah, jagt hinter ihr durch die Nacht,<br />

ein wil<strong>des</strong> Tier mit bluttriefendem Rachen, das aus der Finster-<br />

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