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Die Kinder des - Verlag Josef Knecht

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haben. Das größte würde vermutlich sein, die Abtritte aufzusuchen.<br />

Aber Louise hatte ihr ein paar Kniffe verraten, sie fühlte sich<br />

der Situation durchaus gewachsen.<br />

Als sie sich umgezogen hatte, nahm sie Platz vor der Frisierkommode.<br />

Einen Moment lang saß sie vor dem Spiegel und betrachtete<br />

lächelnd das Mädchengesicht, das ihr im Halbdunkel einer mondklaren<br />

Nacht daraus entgegensah, die hellen Augen, die kleine<br />

Narbe auf der Stirn und der Kranz blonder Locken, der ihr Gesicht<br />

umrahmte.<br />

Sie hatte ein kleines Messer bereitgelegt. Mit zusammengebissenen<br />

Zähnen machte sie einen winzigen Schnitt in je<strong>des</strong> der<br />

kleinen Löcher in ihren Ohrläppchen, in denen bisher immer die<br />

Ohrringe gesessen hatten, gerade genug, dass es blutete. <strong>Die</strong> Kruste<br />

würde die Ohrlöcher verbergen, und danach würden sie wahrscheinlich<br />

verkleben und zuwachsen, so dass sie diese Prozedur<br />

hoffentlich nicht zu wiederholen brauchte.<br />

Sie zog die oberste Schublade der Kommode auf, in der die Bri efe<br />

lagen, die sie geschrieben hatte, einen an Fabiou, einen an Frederi<br />

Jùli und Maria Anno, einen an den Cavalié und Madaleno, und die<br />

Schere, die sie dort bereitgelegt hatte. Ein letztes Mal betrachtete<br />

sie das Gesicht von Cristino de Bèufort im Spiegel, bevor sie begann,<br />

sich die Haare abzuschneiden. Sie schnitt sie kurz, kürzer als<br />

viele Männer sie trugen. Sie musste so wenig weiblich wie möglich<br />

aussehen. Als sie diese Aufgabe vollendet hatte und sich im Spiegel<br />

betrachtete, sah ihr ein frem<strong>des</strong> Gesicht entgegen, das Gesicht<br />

eines hübschen, blonden Knaben in der Tracht eines Handwerksburschen.<br />

Sie fegte die Haare in die Schublade, wo sie die Briefe<br />

umrahmten wie eine goldene Girlande, und legte die Schere dazu.<br />

Dann drückte sie sich die Mütze auf den Kopf, schulterte ihr Bündel<br />

und schlüpfte zur Tür hinaus.<br />

Es war kühl draußen, und der Mond beleuchtete eine schlafende<br />

Landschaft. Cristino drehte sich mehr als zehn Mal zu dem schlafenden<br />

Haus um, bevor sie ihm endgültig den Rücken kehrte und<br />

in den Hohlweg trat, der durch den Wald hinunter in die Ebene<br />

führte. Zwischen den Bäumen herrschte nachtschwarze Dunkelheit,<br />

doch sie kannte den Weg von Kin<strong>des</strong>beinen an und fand ihn<br />

ohne jede Schwierigkeit. Sie fühlte sich angespannt, als sie so durch<br />

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