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Die Kinder des - Verlag Josef Knecht

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Langsam trat Cristino auf die Schaukel zu. Das Sitzbrett war<br />

von einem tiefen Riss durchzogen, ein grüner moosiger Schimmer<br />

bedeckte die Oberfläche. <strong>Die</strong> Halteseile waren steif und grau von<br />

Regen und Sonne. Still, völlig unbewegt hing die Schaukel in der<br />

Mittagshitze, als warte sie dort seit hundert Jahren wie die schlafende<br />

Prinzessin auf den Ritter, der sie aus ihrer Verzauberung<br />

erlöste.<br />

Als warte sie seit hundert Jahren auf Cristino.<br />

Cristino ging um die Schaukel herum, griff mit beiden Händen<br />

nach den Seilen und setztesich auf dasSitzbrett. <strong>Die</strong> Seile knarrten<br />

etwas, ein Knacken durchlief den Sitz, aber die Schaukel hielt. Einen<br />

Augenblick lang saß sie nur so da und starrte auf ihre Schuhe,<br />

die sich knapp über dem Erdboden schwebend sachte durch das<br />

Gras bewegten. Dann begann sie, sich anzustoßen.<br />

Cristino liebte es zu schaukeln. <strong>Die</strong>ses Gefühl <strong>des</strong> Schweb ens,<br />

der Wind, der ihr über das Gesicht strich, das Auf und Ab der<br />

Welt ringsumher und vor allem dieser winzige, grenzenlose Moment<br />

unendlicher Freiheit, wenn die Schaukel ihren Wendepunkt<br />

erreicht hatte, so als brauche man nur loszulassen und die Arme<br />

auszubreiten, um davonzufliegen wie ein Vogel. Kräftiger stieß sie<br />

sich an, höher flog die Schaukel, laut knarrten die Seile, bebte der<br />

Ast, ihre Füße stießen hinauf ins Grün riesiger Baumkronen, ihr<br />

Kleid bauschte sich, flatterte auf bis zu ihrer Brust, sie warf den<br />

Kopf zurück, schloss die Augen und fühlte, wie ihr Haar im Wind<br />

flog…<br />

Dann spürte sie es. Sie wurde beobachtet. Ganz deutlich fühlte<br />

sie plötzlich den Blick in ihrem Rücken, den Blick eines kleinen<br />

Mädchens mit blonden Locken, das sie mit gerunzelter Stirn anblickte.<br />

Geh runter, sagte das kleine Mädchen. Ich bin jetzt dran.<br />

Cristino spürte, wie Angst ihre Kehle zudrückte, da ist niemand,<br />

du bist alleine, aber nein, sie fühlte es doch, fühlte den Blick <strong>des</strong><br />

Mädchens, sah, wie ihre Lippen sich bewegten, hörte fast die wütend<br />

gemurmelten Worte, ich bin dran, geh runter von meiner<br />

Schaukel, sofort! Cristinos Atem beschleunigte sich, ihr Herzschlag<br />

übertönte das Knarren der Schaukel, die Hände fest um die<br />

Seile geklammert drehte sie sich um.<br />

Sie wäre vor Entsetzen beinahe von der Schaukel gefallen.<br />

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