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Die Kinder des - Verlag Josef Knecht

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chenzug, der umso morbider ist, als auch die Zuschauer auf beiden<br />

Seiten Tote sind, Tote, die mit offenen Augen am Wegesrand liegen,<br />

nebeneinander, übereinander, verschlungen in einer finalen<br />

Umarmung. Langsam läuft das Mädchen, den Blick starr auf das<br />

gerichtet, was sie in ihren Armen trägt, ein Bündel bestehend aus<br />

einem fleckigen Stück Tuch, ein Bündel, in dem sich etwas bewegt<br />

und das sie trägt, wie man ein Kind zur Taufe trägt.<br />

Das Mädchen bleibtstehen vor Cristino. Und Cristinosieht.<br />

Es ist kein Kind, kein kleiner, wimmernder Säugling, wie es Maria<br />

Anno vor einem Jahr noch war. In dem fleckigen Tuch liegt ein<br />

grausiger Homunkulus, ein Wesen kaum ein Viertel so groß wie<br />

ein Neugeborenes, mit einem riesigen Kopf, der aus roter Gallerte<br />

zu sein scheint, eingesunkenen, leblosen Augen, einem lippenlosen<br />

Spalt als Mund und einem mageren, winzigen Körper. Es schreit<br />

nicht, das Wesen, es atmet nicht, und das einzige Lebenszeichen<br />

ist das Zucken der dürren Arme und Beine mit den verkrüppelten<br />

Fingern und Zehen.<br />

Cristino dreht sich um und rennt. Es ist Nacht jetzt, sogar der<br />

Schein <strong>des</strong> Feuers ist verschwunden, nur düstere endlose Gänge<br />

und der hohle Hall ihrer eigenen Schritte auf Marmorplatten. Es<br />

ist hinter ihr, folgt ihr mit Schritten doppelt so groß wie die ihren,<br />

sie hört seinen Atem in der Nacht, sein Geifern, das Knirschen seiner<br />

ausgefahrenen Krallen. Mamaa, ruft sie, Papa, wo seid ihr, helft<br />

mir doch, und hinter ihr lacht das Untier, lacht und kommt näher,<br />

aus dem Augenwinkel sieht sie seinen Schatten über die Wände<br />

tanzen, Mamaa, schreit sie, Mamaaa, hilf miiir!<br />

Sie stolpert. Etwas liegt quer über den Gang, etwas weiches, massives,<br />

wie ein menschlicher Körper, und doch anders, kälter, steifer,<br />

erstarrt bleibt sie stehen und blickt auf den Fußboden und hinter<br />

ihr lacht es schrill und grausig, und das Untier kommt näher.<br />

Es ist ein Mädchen, das da vor ihr auf dem Boden liegt, ein Mädchen<br />

mit lockigen blonden Haaren. Der Kopf <strong>des</strong> Kin<strong>des</strong> ist in den<br />

Nacken gelegt, und es sieht sie an, der Mund halb geöffnet in dem<br />

aufgequollenen, blau verfärbten Gesicht, winzige Sprenkel wie kleine<br />

rote Sommersprossen auf den halb geschlossenen Augenlidern.<br />

«Cristino!»<br />

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